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Rede

Jan Schalauske - 50 Jahre Radikalenerlass: DIE LINKE fordert eine Aufarbeitung und Entschädigung der Betroffenen

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In seiner 95. Plenarsitzung am 03. Februar 2022 debattierte der Hessische Landtag auf unseren Antrag zum Thema ‚50 Jahre Radikalenerlass und Berufsverbots-Praxis‘. Dazu die Rede unseres Vorsitzenden Jan Schalauske.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Am 28. Januar 1972, vor mittlerweile 50 Jahren, verabschiedete die Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlass. Zur Abwehr vermeintlicher Verfassungsfeinde sollten Personen, die nicht Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden. Formell richtete sich dieses antidemokratische Instrument – von Willy Brandt später als größter Fehler bezeichnet – gegen Links- und Rechtsextremisten. In der Praxis traf er fast ausschließlich Aktive des linken Spektrums, Mitglieder kommunistischer, sozialistischer und anderer nicht verbotener linker Parteien und Gruppierungen bis hin zu linken Sozialdemokraten und Friedensinitiativen.

Es war die autoritäre Reaktion eines Staates und eines Teils seiner Eliten auf das Erstarken der außerparlamentarischen Opposition, die nicht nur gegen gesellschaftliche Missstände wie den Krieg in Vietnam, die Notstandsgesetze eintrat und auch die Nazivergangenheit als tragende Säule der jungen Bundesrepublik thematisierte, sondern die sich auch kapitalismuskritischen und marxistischen Ideen zuwandte. Die Berufsverbote waren ein Ausdruck eines antikommunistischen Klimas in der Bundesrepublik an der Nahtstelle zwischen West und Ost in einem Land, in dem zu einem nicht unerheblichen Maße alte Nazis wieder den Ton angaben – in Justiz, in Verwaltung, in den Ministerien, an den Universitäten und nicht zuletzt in den Geheimdiensten.

Der Staatsapparat suchte mit dem sogenannten Radikalenerlass sicherzustellen, dass der Aufbruch von 1968 nicht in einen „Marsch durch die Institutionen“ mündete, dass das Streben eines gewichtigen Teils einer ganzen Generation nach grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen nicht zu einer Veränderung von Staat und Gesellschaft führte. Während sich einige bei ihrem Marsch an die Spitze der Institutionen bis in die Unendlichkeit verloren, bedeutete für andere ein Berufsverbot den Verlust ihrer materiellen und gesellschaftlichen Existenz.

Anlässlich des 50. Jahrestages der Berufsverbote ist es endlich an der Zeit, dass der Hessische Landtag feststellt, dass der sogenannte Radikalenerlass und seine Umsetzung in Hessen ein unrühmliches, ein dunkles Kapitel in unserer Landesgeschichte darstellen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

In der Folge des Erlasses kam es zu mehr als 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerberinnen und Bewerbern sowie 256 Entlassungen. 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden in Form von Regelanfragen vom Geheimdienst auf ihre politische Zuverlässigkeit überprüft. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie nicht die nötige Gewähr dafür böten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten. Dabei wurden nicht nur rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft gesetzt, nämlich jemanden nach seinem Verhalten und nicht nach seiner Gesinnung zu beurteilen, sondern es wurde auch ignoriert, dass die Betroffenen ihren Amtseid nicht auf die Marktwirtschaft, auf eine bestimmte Politik der Regierung, sondern auf das Grundgesetz und auf die Hessische Verfassung abgelegt hatten.

(Beifall DIE LINKE)

Das Grundgesetz hält doch bekanntlich und höchstrichterlich festgestellt die Gestaltung der Wirtschaft offen. In der Hessischen Verfassung finden sich bis heute sozialistische Vorstellungen. Keinem der Betroffenen konnte vor Gericht jemals eine konkrete Verfehlung nachgewiesen werden. Dennoch gibt es in Hessen bis heute keine Entschuldigung bei denjenigen, die bespitzelt, eingeschüchtert oder ausgefragt worden sind, nicht bei denen, deren Lebenswege verbaut, noch bei denjenigen, die aus Angst um ihre berufliche Perspektive auf ihre freie Meinungsäußerung und freie Entfaltung verzichtet haben. Eine besondere Bitterkeit erfüllt mich, dass unter den Betroffenen, unter den ersten Opfern der Berufsverbote die Kinder von Widerstandskämpfern gegen den Faschismus gewesen sind.

Der sogenannte Radikalenerlass hat weit über den Kreis der direkt Betroffenen hinaus Angst und Duckmäusertum geschürt. Politische Arbeit wurde kriminalisiert, und die Auswirkungen sind bis heute spürbar. Viele der Betroffenen haben sich über Jahrzehnte hinweg gegen das drohende oder das gegen sie verhängte Berufsverbot gewehrt. Sie haben mit ihrem Einsatz für Gerechtigkeit, für Frieden, für Antifaschismus, für Grundrechte, Meinungs- und Organisationfreiheit sehr viel für die Demokratie getan. Dafür haben sie Respekt und Anerkennung verdient.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Einige der Betroffenen haben sich heute zu einer Mahnwache auf dem Dernschen Gelände getroffen. Auch wenn viele von ihnen mittlerweile über 70 Jahre alt sind, manche in Altersarmut leben und andere unter den psychischen Folgen der Zeit leiden, setzen sie sich noch immer unermüdlich dafür ein, dass die Berufsverbote öffentlich als Unrecht anerkannt werden, dass die Urteile aufgehoben und die Betroffenen rehabilitiert und entschädigt werden. Einige von ihnen haben sich auch mit einer Petition an den Hessischen Landtag gewandt. Ich sage es: Es sagt viel über unser Land aus, dass wir das anlässlich des 50. Jahrestags noch immer tun müssen und dass die Berufsverbote-Praxis noch immer nicht als das benannt worden ist, was sie ist, nämlich Unrecht.

(Beifall DIE LINKE)

Deswegen ist es überfällig, dass der Hessische Landtag das Geschehene nicht nur bedauert, sondern eben feststellt, dass die von hessischen Maßnahmen betroffenen Personen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierung und Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid und kaum entschuldbares Unrecht erleben mussten, und sich der Landtag bei den Betroffenen ausdrücklich entschuldigt.

(Beifall DIE LINKE und Heike Hofmann (Weiterstadt) (SPD))

In Hessen beendete die erste rot-grüne Landesregierung den Radikalenerlass und alle dazu ergangenen Beschlüsse in der Praxis. Vorangegangen war eine massive Kritik an der Praxis der Berufsverbote vor allem im europäischen Ausland. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, beanstandete in einem förmlichen Verfahren gegen die Bundesrepublik diese Praxis. Während das Bundesverfassungsgericht keinen Verfassungsverstoß feststellte, wurde die Praxis der Berufsverbote sogar vom Europäischen Gerichtshof und weiteren internationalen Institutionen als völker- und menschenrechtswidrig verurteilt.

Dennoch: Eine umfassende politische und gesellschaftliche Rehabilitation und materielle Entschädigung stehen bis heute noch aus. Deshalb fordern wir heute im Hessischen Landtag, dass das Parlament endlich die Forderungen der Betroffenen nach politischer und gesellschaftlicher Rehabilitation und materieller Entschädigung unterstützt und dazu die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden.

(Beifall DIE LINKE)

Einige Bundesländer haben bereits Schritte zur Aufarbeitung auf Landesebene unternommen. Daran waren häufig Parteien beteiligt: die SPD, aber auch die GRÜNEN, DIE LINKE. Wir begrüßen es auch, dass die SPD heute einen Antrag zu dem Thema vorgelegt hat. Der Hessische Landtag hat hingegen lediglich in seinem Entschließungsantrag vom Januar 2017, als unsere Fraktion anlässlich des 45. Jahrestags eine Debatte auf den Weg gebracht hatte, sein Bedauern ausgesprochen. Er hat zugleich das demokratische Engagement in linken Gruppen und Parteien auf eine Ebene mit Rechtsextremen, NPD und RAF gestellt. Das war ein Schlag in das Gesicht der Betroffenen. So etwas darf es angesichts der heutigen Debatte und angesichts des 75-jährigen Bestehens der Hessischen Verfassung nicht wieder geben, meine Damen und Herren.

(Beifall DIE LINKE und Gerald Kummer (SPD))

Aber ich will sagen: Berufsverbote sind nicht nur ein historisches Phänomen. Noch vor mehreren Jahren wurde ein Lehrer aus Heidelberg auch in Hessen wegen seiner Mitgliedschaft in einer antifaschistischen Initiative mit einem Berufsverbot belegt. Vor einigen Jahren durfte die Universität München zunächst einen jungen Wissenschaftler nicht als Doktoranden einstellen. Der Geheimdienst hatte sich eingeschaltet. Auch aus der neuen Bundesregierung werden Forderungen laut, Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen.

Ja, meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist mit einer wachsenden Gefahr von rechts konfrontiert. In Teilen der Polizei, der Bundeswehr haben wir es mit ernst zu nehmenden rechten Umtrieben zu tun, die nicht tatenlos hingenommen werden dürfen. Um aber gegen nazistische Tendenzen vorzugehen, braucht es keinen neuen Extremistenbeschluss, sondern den konsequenten Einsatz des Strafrechts. Gerade der Terror des NSU hat doch gezeigt, dass der Geheimdienst eben nicht Teil der Lösung im Kampf gegen rechts ist, sondern dass er Teil des Problems ist.

(Beifall DIE LINKE)

Deswegen meinen wir als LINKE unmissverständlich: Die Geschichte der Berufsverbote und die Schicksale der Betroffenen mahnen uns. Das Aushebeln rechtsstaatlicher Grundsätze darf ebenso wenig ein Beitrag zum Schutz der Demokratie sein wie die Gleichsetzung des demokratischen Einsatzes für die Vergesellschaftung von relevanten Teilen der Wirtschaft mit der wachsenden Gefahr durch die extreme und militante Rechte und ihre geistigen Brandstifter. Deshalb gilt: Politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen dürfen nie wieder Instrumente eines demokratischen Rechtsstaats sein. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)