Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler - Es sind noch längst nicht alle Maßnahmen außer Ausgangssperren ausgeschöpft

Janine Wissler
Janine WisslerCoronaGesundheit

In seiner 60. Plenarsitzung am 8. Dezember 2020 diskutierte der Hessische Landtag ausführlich über die Corona-Politik der Landesregierung. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Fünf Wochen sind seit der letzten Regierungserklärung zur Corona-Lage vergangen. Dies war kurz vor dem sogenannten November-Lockdown. Nun stellen wir fest, dass dieser Lockdown light die Infektionen nicht hat sinken lassen. Die Neuinfektionen haben sich auf hohem Niveau stabilisiert, die Intensivstationen füllen sich, und die Todeszahlen steigen. Wir sehen: Diese Maßnahmen reichen nicht aus.

Die Menschen im Land sind mehrheitlich bereit, große Einschränkungen hinzunehmen, um sich und ihre Mitmenschen zu schützen. Auf umso mehr Unverständnis stößt es dann, wenn Maßnahmen nicht nachvollziehbar sind oder das Gefühl aufkommt, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Jetzt sprechen wir plötzlich – die Landesregierung hat diese gestern für Hotspots beschlossen – über nächtliche Ausgangssperren. Das ist entweder ein drastischer Eingriff in die Bewegungsfreiheit, oder diese Eingriffe sind so großzügig gestaltet, mit so vielen Aufnahmen, dass sie faktisch wirkungslos sind. Herr Ministerpräsident, daher stellt sich schon die Frage: Wer soll diese Ausgangssperren eigentlich kontrollieren und mit welchem Personal? Meine Befürchtung ist: Das ist hilflose Symbolpolitik, die nichts bewirken und die Zahlen nicht herunterbekommen wird.

(Beifall DIE LINKE)

Der Ministerpräsident hat am Wochenende im „Bericht aus Berlin“ sinngemäß gesagt, es gebe außer einem Alkoholverbot und Ausgangssperren – beides machen Sie jetzt – nicht mehr viel Spielraum für Beschränkungen. Doch ist das wirklich so? Die Worte des Ministerpräsidenten stehen beispielhaft für eine ziemlich schiefe Wahrnehmung. Es gäbe eine ganze Reihe von Maßnahmen, die man jenseits von Ausgangssperren ergreifen könnte. Der Fokus der Maßnahmen, die jetzt beschlossen werden, liegt fast ausschließlich auf privaten Kontakten und der Freizeitgestaltung. Weite Teile des gesellschaftlichen Lebens sind jedoch weiterhin kaum oder gar nicht reguliert.

Das gilt für das Arbeitsleben, die Situation in den Betrieben oder für den Weg dorthin in vollen Bussen und Bahnen. Während die Menschen jetzt auf nächtliche Ausgangssperren vorbereitet werden, arbeiten Menschen weiterhin praktisch nicht reguliert etwa in Großschlachthöfen, Büros oder bei Amazon. Homeoffice bleibt eine reine Empfehlung an die Unternehmen und ist längst nicht in allen Berufen möglich. Wenn sich Menschen in Bezug auf ihre privaten Kontakte schmerzhaft einschränken sollen, in Werkshallen aber weiterhin mit Hunderten Beschäftigten zusammenkommen, dann ist das ein Ungleichgewicht. Notwendig wären eine Verpflichtung der Arbeitgeber, mobiles Arbeiten zu ermöglichen, wo immer es möglich ist, sowie notfalls das zeitweise Aussetzen von nicht zwingend erforderlicher Produktion.

(Beifall DIE LINKE)

Stattdessen wird jetzt schon wieder über Sonntagsöffnungen im Einzelhandel diskutiert. Die Beschäftigten im Einzelhandel, zum Großteil Frauen, sind ohnehin schon einer hohen Belastung und einem großen Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Ihnen jetzt noch den Sonntag mit ihren Familien nehmen zu wollen, ist schäbig. Wenn der Applaus für die Verkäuferinnen ernst gemeint war, dann sollten wir endlich über höhere Mindestlöhne und die Stärkung von Flächentarifverträgen reden statt über mehr Sonntagsarbeit für diese Berufsgruppen.

(Beifall DIE LINKE)

Auch die Schulen sind Orte, wo längst nicht alle Maßnahmen zum Infektionsschutz ausgeschöpft sind – auch unter der Maßgabe, dass so viel Unterricht wie möglich stattfinden soll. In den Schulen ist die Stimmung vielerorts ziemlich mies; alle Beteiligten sind unzufrieden. Die Schulen fühlen sich alleingelassen, Lehrkräfte arbeiten am Limit, Schülerinnen und Schüler und deren Eltern können die unterschiedlichen Maßnahmen oft nicht mehr nachvollziehen, die sich auch noch von Schulträger zu Schulträger unterscheiden. In Frankfurt protestierten Schüler, um auf zahlreiche Probleme aufmerksam zu machen. Kinder und Jugendliche in den Schulen fürchten um ihre Gesundheit, sie fürchten um die Gesundheit ihrer Familien. Sie sollen sich derzeit höchstens mit Menschen aus einem weiteren Haushalt treffen bzw. höchstens mit einer weiteren Familie zusammenkommen. Gleichzeitig müssen sie weiterhin in überfüllten Schulbussen zu überfüllten Klassenzimmern fahren.

Den Lehrerinnen und Lehrern und anderen Beschäftigten in den Schulen geht es genauso. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat dem Kultusminister letzte Woche eine Petition mit über 12.000 Unterschriften überreicht, in der sie für die Schulen im Corona-Winter ein tragfähiges Konzept fordern. Herr Ministerpräsident, das hat nichts mit Angst- oder Panikmache zu tun. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Gesundheit; und damit haben sie vollkommen recht.

(Beifall DIE LINKE)

Viele Klassenzimmer sind zu klein. Die Temperaturen liegen nun schon seit Tagen um den Gefrierpunkt, doch aus dem Kultusministerium hört man weiterhin nur: Bitte immer gut lüften, dann passt das schon. – Das ist das Konzept des Kultusministeriums. Ja, wo bleiben denn die Luftfilter? Wo bleiben denn die Stufenpläne? Herr Kultusminister, Sie sagen, man solle lüften, und dann werde schon alles werden. – So darf es doch nicht weitergehen. Bereits vor den Sommerferien haben wir Sie gemeinsam mit der SPD aufgefordert, ein Konzept für die kalte Jahreszeit vorzulegen. Bis heute gibt es an Hessens Schulen keine verbindlichen Regelungen im Umgang mit Corona. Herr Minister, Sie reagieren immer erst nachträglich auf das Pandemiegeschehen – wenn Sie überhaupt reagieren – und schieben Entscheidungen auf die lange Bank. Das Motto dieser Regierungserklärung „Hessen bleibt besonnen“ darf nicht heißen: Der Kultusminister bleibt untätig.

(Beifall DIE LINKE)

Stattdessen wird die Verantwortung auf die Schulträger, Schulaufsichtsbehörden, Schulen und vor allem auf die Schulleitungen abgeschoben. Das ist ein Trauerspiel. Ein landesweiter Stufenplan wäre notwendig, der die Inzidenzen klar benennt, der Klassenteilungen und Wechselunterricht vorsieht – gerade für weiterführende und berufliche Schulen – sowie einen versetzten Schulbeginn. Außerdem brauchen wir eine bedarfsgerechte digitale und hygienische Ausstattung der Schulen. Seit Jahren diskutieren wir im Landtag über marode Schulen. Schülerinnen und Schüler sowie Eltern gehen seit Jahren auf die Straßen und fordern Schulsanierungen. Gerade jetzt, in der Corona-Krise, zeigen sich die Versäumnisse und Folgen ausgebliebener Investitionen überdeutlich, da es zu wenige Waschbecken gibt, da Klassenräume Fenster haben, die sich nicht öffnen lassen, und da die Klassenräume und Mensen einfach viel zu eng sind. Es zeigt sich, wo es Versäumnisse gibt; und diese verantworten Sie, Herr Kultusminister.

(Beifall DIE LINKE – Holger Bellino (CDU): Das ist doch der Schulträger!)

  • Herr Bellino, auf dieses Stichwort habe ich gewartet. Esist genau das, was Sie die letzten Jahre immer getan haben: Es gibt ein Problem, das Land erklärt sich erst einmal für nicht zuständig und schiebt die Verantwortung auf die unterfinanzierten Kommunen ab, wobei Sie dafür gesorgt haben, dass die Kommunen unterfinanziert sind.

(Beifall DIE LINKE – Anhaltende Zurufe Holger Bellino (CDU))

Schulen müssen mit Luftfiltern ausgestattet und Schulbuslinien endlich doppelt besetzt werden. Das muss das Land finanzieren, nicht die Kommunen, zu deren Unterfinanzierung Sie in den letzten Jahren erheblich beigetragen haben.

(Holger Bellino (CDU): Genauso wie in Venezuela!

  • Gegenrufe DIE LINKE: Tätätä! – Ach, „genau wiein Venezuela“! – Holger Bellino (CDU): Ja, wo leben Sie denn?)
  • Wir haben im Landtag, was die Zwischenrufe angeht,wieder einen Niveau-Limbo.

Das deutsche Bildungssystem gleicht soziale Unterschiede nicht aus, sondern verstärkt sie. Auch das hat sich in der Corona-Krise noch verschärft. Viele Kinder haben keinen eigenen Computer oder kein eigenes Zimmer, in dem sie in Ruhe lernen können. Der Lernerfolg darf aber nicht von der technischen Ausstattung in einer Familie oder der Hilfe der Eltern abhängen. Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass alle Schülerinnen und Schüler in der Schule den bestmöglichen Zugang zu Bildung haben und dass die soziale Herkunft nicht über den Bildungserfolg eines Kindes entscheidet.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Ministerpräsident, auf völliges Unverständnis stößt bei uns auch der Umgang mit den Flüchtlingsunterkünften. Durch die enorm dichte Belegung, bei der sich oft ganze Familien oder sogar völlig Fremde einen Raum teilen, haben sich in den letzten Monaten leider immer wieder Hotspots entwickelt. Massenquarantäne war die Folge. Trotzdem hat die Landesregierung alle Appelle von Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsinitiativen ignoriert und keinerlei Maßnahmen ergriffen, um die gesundheitsgefährdende Situation für die dort untergebrachten oder arbeitenden Menschen zu entschärfen, obwohl leer stehende Jugendherbergen explizit ihre Hilfe angeboten haben.

(Zuruf SPD: Ja, und das wird auch wahrgenommen! – Weiterer Zuruf: Es war gerade einmal eine Jugendherberge! Wie viele gibt es denn in Hessen?)

Schauen wir uns die vielen Corona-Ausbrüche an. Das verdeutlicht doch, dass die Landesregierung mit ihrem Konzept, viele Menschen in Massenunterkünften unterzubringen, auf dem Holzweg ist. Es muss doch das Ziel sein, die Menschen dezentral in Wohnungen unterzubringen. Das gilt immer, aber das gilt besonders in einer Pandemie. Vorübergehend wären als Sofortmaßnahme zumindest kleinere Einheiten und die Auflösung der großen Gemeinschaftsunterkünfte dringend notwendig.

(Beifall DIE LINKE)

Solidarität darf nicht an den Außengrenzen enden. Deshalb will ich auch in dieser Rede darauf hinweisen, dass noch immer Tausende Menschen in Moria und anderen Flüchtlingslagern unter unwürdigsten Bedingungen leben, in Zelten, ohne sanitäre Anlagen, Heizung und medizinische Versorgung. Jetzt kommt der Winter, und es ist eine Schande für die EU und ihre Mitgliedstaaten, dass man diese Menschen, darunter viele Kinder, in Not und Elend im Stich lässt. Auch hier hat Hessen eine Verantwortung, sich dafür einzusetzen, dass Deutschland Menschen aufnimmt und ihnen eine sichere Unterkunft bietet.

(Beifall DIE LINKE)

Es ist vollkommen verantwortungslos, dass trotz des Höchststands von Corona-Infektionen unabhängig von Reisewarnungen und Risikogebieten weiter abgeschoben wird. Es braucht jetzt einen pandemiebedingten generellen Abschiebestopp, wie es ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis fordert, darunter der Paritätische, die Diakonie Hessen und Pro Asyl.

Anders als zu Beginn der Pandemie sind Dublin-Überstellungen nicht ausgesetzt. Es wird beispielsweise weiter in den Hotspot Madrid abgeschoben. Dabei sollte doch eigentlich der gesunde Menschenverstand sagen: Wenn keiner reisen soll, darf erst recht niemand in Zeiten der Pandemie abgeschoben werden.

(Beifall DIE LINKE)

Das sollte allen, die sich als Christen verstehen, besonders zur Weihnachtszeit einleuchten.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle will ich noch etwas Grundsätzliches zu der alles dominierenden Debatte über Weihnachten und die Feiertage sagen. Alle reden über Weihnachten und sagen, wie wichtig es ist, dass die Familien an Weihnachten zusammenkommen können. Ich hätte mir gewünscht, dass es ein kleines bisschen mehr Sensibilität gegenüber Muslimen und Juden gegeben hätte, die während des ersten Lockdowns Ramadan und Pessach gefeiert haben und die zum Teil öffentlich angefeindet wurden, weil sie sich abends mit der Familie zum Fastenbrechen und Beisammensein getroffen haben.

(Robert Lambrou (AfD): Mit 200 Leuten! Das kann man schon kritisieren!)

Auch hier hätte ich mir gewünscht, dass wir mehr Sensibilität für religiöse Feiertage gehabt hätten, wo Menschen zusammenkommen wollen. Ich hätte mir gewünscht, dass es keine Anfeindung in diesem Zusammenhang gegeben hätte.

Meine Damen und Herren, das Gesundheitssystem ist mittlerweile am Anschlag. Die Gesundheitsämter sind überlastet. Die Infektionsketten lassen sich nicht mehr nachvollziehen. Jahrelang wurde dort Personal eingespart. Man hat den Sommer nicht genutzt, um neues Personal einzustellen. Jetzt haben wir die Bundeswehr, die Teile dieser Aufgaben übernimmt. Das zeigt, wie dramatisch die Personalsituation ist. Wir brauchen gut ausgebildetes Personal in den Gesundheitsämtern, das dauerhaft dort ist, und nicht die Bundeswehr.

Die Menschen in den Krankenhäusern, in den Praxen und den Pflegeeinrichtungen sind längst an ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus. Sie riskieren ihre eigene Gesundheit, um den Kampf gegen das Virus und für die Gesundheit ihrer Patienten und Bewohner zu führen.

Und was macht die Landesregierung? Nachdem man jahrelang den Pflegenotstand ignoriert hat, forderte der Gesundheitsminister unlängst die Aufhebung der Personaluntergrenzen. So hilft man dem Gesundheitssystem nicht. Leider wurde auch hier die Zeit über den Sommer nicht genutzt, um zusätzliches Personal einzustellen, um zusätzliches Personal zur Unterstützung auf Intensivstationen umzuschulen oder um ausgeschiedene Pflegekräfte für den Beruf zurückzugewinnen. Statt das Personal noch weiter zu belasten, brauchen wir endlich angemessene Maßnahmen gegen den Pflegenotstand und für die Entlastung des Pflegepersonals.

Das Stufenkonzept für die Kliniken funktioniert nach Aussage von Betriebsräten und Klinikleitungen vielerorts nicht. Viele Intensivkapazitäten werden immer noch für verschiebbare Operationen reserviert, weil Wettbewerbslogik und Kostendruck durch die Fallpauschalen die Kliniken dazu zwingen.

Deshalb ist es so wichtig, dass die Freihaltepauschalen für die Intensivpflege wieder gezahlt werden, gerade für die kleineren Kliniken, weil dort die Situation extrem angespannt ist. Wir brauchen die Kapazitäten dringend, um die COVID-Patienten auf den Intensivstationen zu pflegen.

(Beifall DIE LINKE)

Genauso angespannt ist die Situation in der ambulanten Pflege und den Senioren- und Pflegeeinrichtungen. Zwei Drittel der Menschen, die im November an einer Infektion mit COVID-19 gestorben sind, lebten in Senioren- und Pflegeeinrichtungen. Schon in der ersten Welle der Pandemie waren viele Altenheime Schwerpunkte von Infektionsketten.

Anders als in der ersten Welle wissen wir heute eine ganze Menge mehr über das Virus. Es gibt Hygienekonzepte, und es gibt inzwischen funktionierende Schnelltests. Aber die müssen auch eingesetzt werden. Hier wurde der Sommer nicht genutzt, um entsprechende Strategien vorzubereiten, um ausreichend FFP2-Masken zu beschaffen, um die

Schnelltests zu beschaffen.

Die Leidtragenden sind dann die Pflegebedürftigen, aber auch die Angehörigen und das Pflegepersonal, die immer fürchten müssen, unwissentlich für die Einschleppung des Virus in den Einrichtungen verantwortlich zu sein. Die Menschen in den Pflegeeinrichtungen dürfen nicht vereinsamen. Sie müssen Besuch empfangen können, und dafür brauchen wir gute Rahmenbedingungen.

Ich will an der Stelle etwas auf Herrn Rock erwidern, der eben an die Adresse der LINKEN gesagt hat, dass Biontech doch so ein gutes Beispiel sei, wie gut Marktwirtschaft und private Unternehmen funktionieren, weil man ganz schnell einen Impfstoff entwickelt habe. Ich will nur, dass nicht ganz vergessen wird, dass der Bund 375 Millionen € für die Forschung dazugegeben hat. Es war nicht so, dass der Markt es allein geregelt hat und dieses privatwirtschaftliche Unternehmen es ganz allein geschafft hat, sondern hier gab es eine massive staatliche Unterstützung bei der Entwicklung von Impfstoffen. Das soll in der Debatte nicht vergessen werden.

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt viele andere Menschen, denen nach Monaten der Pandemie aus unterschiedlichen Gründen langsam, aber sicher die Kraft ausgeht oder das Geld – oder nicht selten auch beides.

Menschen mit Behinderungen etwa sind von den Einschränkungen besonders stark betroffen, auch weil sie oft zur Risikogruppe gehören. In den Sozialschutz- und Rettungspaketen ist für diese Menschen und auch für ihre Einrichtungen kaum zusätzliche Unterstützung vorgesehen.

Ökonomisch sind Menschen in den Branchen besonders betroffen, die schon seit dem Frühjahr leiden, etwa die Reisebüros, die Schausteller, der Kultur- und der Veranstaltungsbereich. Dort herrscht Alarmstufe Rot. Wo die Arbeit nicht untersagt wird, sondern einfach die Aufträge ausbleiben, greifen die sogenannten November- und Dezemberhilfen oft gar nicht. Die Novemberhilfen sollen jetzt – anders, als ihr Name vermuten lässt – erst im Januar ausgezahlt werden.

(Zuruf: Es gibt Abschlagszahlungen!)

Auch das bringt Menschen finanziell in die Bredouille. Es bedeutet weitere Unsicherheit.

Dann gibt es noch die andere Seite der Medaille. Das sind Unternehmen, die profitabel sind und diese Krise nutzen, um Arbeitsplätze in der Region abbauen – ausgerechnet in der Krise, wo in vielen Familien das Geld knapp ist und die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt besonders schwierig sind.

Unternehmen wie Continental, Coca-Cola oder HitachiABB schließen grundsätzlich rentable Werke, um ihre Profite zu optimieren. Das halte ich für eine Sauerei. Die Beschäftigten haben im Kampf um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze unsere Unterstützung.

(Beifall DIE LINKE)

Es geht hier nicht um Kostenfaktoren auf zwei Beinen, sondern es geht um Menschen, ihre Familien, um deren Existenzen. Es geht um ganze Regionen. Da würde ich mir wünschen, dass der Ministerpräsident und sein Wirtschaftsminister einmal klare Worten finden und Position für die Beschäftigten beziehen würden, statt immer hilflose Appelle an die Konzernzentralen zu senden. Sie sollten einmal deutlich sagen, was man davon hält und dass man auf der Seite der Beschäftigten steht, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen und den Reichtum dieser Unternehmen durch ihre Arbeit erwirtschaftet haben.

(Beifall DIE LINKE)

Der große Corona-Profiteur Amazon kündigt auch in der Pandemie Menschen krankheitsbedingt. Übrigens gibt es dort immer noch keinen Tarifvertrag.

Die Lufthansa erhält umgerechnet fast 231.000 € an staatlicher Hilfe für jede der 39.000 Stellen, die sie streichen will. Wenn man sich vorstellt, wie viel Geld in Form von stiller Beteiligung und Kreditabsicherungen die Bundesregierung bereitgestellt hat für die Lufthansa: Diese Arbeitsplätze hätte die Bundesregierung retten können, hätte sie retten müssen. Wenn man Arbeitsplatzgarantien verlangt hätte, dann müssten die Beschäftigten bei der Lufthansa und der gerade verkauften Tochter LSG nicht um ihre Arbeitsplätze bangen. Diese Beschäftigten wurden im Stich gelassen.

(Zuruf Michael Boddenberg (CDU))

Wenn man Unternehmen rettet und viel Geld reinsteckt, Herr Boddenberg, dann kann man nicht sagen: Wir verzichten auf jegliche Mitsprache und auf jegliche Arbeitsplatzgarantie. – Denn das ist es doch, was an diesem Unternehmen gerettet werden muss: die Beschäftigten, die all die Jahre für die Lufthansa in der Luft und am Boden gearbeitet haben.

(Beifall DIE LINKE)

Nicht vergessen dürfen wir die Menschen, die ihren Minijob oder ihren studentischen Nebenjob in der Gastronomie, im Fitnessstudio oder im Einzelhandel verloren haben. Viele von ihnen haben nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld und finden in der derzeitigen Situation auch kaum etwas Neues.

Auch wer seinen Job noch hat, muss zum Teil mit erheblichen Lohneinbußen klarkommen. Es gibt immer noch Hunderttausende hessische Beschäftigte in Kurzarbeit. Dem Statistischen Bundesamt zufolge sind im zweiten Quartal 2020 die Reallöhne gegenüber dem Vorjahresquartal um 4,7 % gesunken. In einzelnen Branchen ist es noch viel dramatischer: um 17 % im Beherbergungsbereich, um 14 % in der Luftfahrt, um 11 % in der Gastronomie.

Wer vorher schon ein niedriges Einkommen hatte, den treffen Gehaltseinbußen durch die Kurzarbeit ganz besonders. Bei einem Niedriglohn kann das dazu führen, dass man unter die Armutsschwelle rutscht, und davon sind überdurchschnittlich viele Frauen betroffen.

Wer Einkommenseinbußen hinnehmen muss oder sogar seinen Job verliert, der hat auch nicht selten Probleme, seine Miete noch zu bezahlen. Gerade in einer solchen Situation muss die Landesregierung alles in ihrer Macht Stehende tun, um Mieterinnen und Mieter vor Mietschulden und schlimmstenfalls dem Wohnungsverlust zu schützen.

Dass ausgerechnet die landeseigene Wohnungsgesellschaft Nassauische Heimstätte gerade angekündigt hat, ab dem Jahreswechsel ihre Mieten wieder zu erhöhen, ist ein vollkommen falsches Signal.

(Beifall DIE LINKE)

Schutz vor Corona braucht ein sicheres Zuhause, und das haben nicht alle – weil sie Gewalt in den eigenen vier Wänden ausgesetzt sind und ihr in der Pandemie noch schwieriger entkommen können oder weil sie keine Wohnung haben und Ausgangssperren gar nicht befolgen könnten. Die Obdachlosen sind vollkommen ungeschützt vor Winterkälte und Infektionsgefahr. Sie brauchen sichere Unterkünfte und medizinische Versorgung. Alkoholverbote im öffentlichen Raum und Ausgangssperren helfen da gar nichts.

Meine Damen und Herren, Kultur macht eine Gesellschaft aus, und sie ist systemrelevant. Der Kulturbereich ist in einer ganz besonders schwierigen Situation. Auch hier sollte es einen Fahrplan und so viel Planbarkeit wie möglich geben. Es sollte geregelt werden, unter welchen Bedingungen etwa Theater, Kinos oder Museen wieder öffnen dürfen – wann auch immer diese eintreten. Ist es die 5-m2-Regel, die 3-m2-Regel, oder sind dann Luftfilter Pflicht? Das alles könnte heute schon vorbereitet werden, statt es wieder kurzfristig vor den Öffnungen zu verkünden. Aber dazu müsste man mal ein paar Wochen und Monate vorausdenken.

Meine Damen und Herren, es gibt viele Menschen, die auf die Straße gehen und für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze oder eine gerechte Verteilung von Hilfen in dieser Krise protestieren. Es gibt viele Kritikpunkte an den CoronaMaßnahmen, die berechtigt sind.

Außerdem es gibt den Popanz, den die AfD und die sogenannten Querdenker mit Demonstrationen ohne Einhaltung von Abständen und ohne Mund-Nasen-Schutz veranstalten. Es sind Demonstrationen, an denen auch Abgeordnete der hessischen AfD teilgenommen haben, bei denen sich Neonazis, rechte Verschwörungsideologen und Reichsbürger tummeln, wo Reichskriegsflaggen und Holocaust-Relativierungen vielerorts das Bild prägen.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Aber auch die LINKEN und die GRÜNEN!)

Da Sie es eben angesprochen haben: In der Tat erinnere ich mich, dass die AfD anfangs ganz anderer Meinung war, was die Masken angeht. Im März hat Herr Heidkamp hier gesagt, dass die AfD gar nicht verstehen könne, warum es nicht längst eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit gebe. Das würde doch alle schützen. Dann haben Sie kritisiert, dass es vor dem Plenarsaal keinen Karton gibt, aus dem sich alle Abgeordneten kostenfrei mit Masken bedienen können. Damals hat Ihre Fraktion geklatscht. Heute reden Sie von der „Merkel-Burka“.

Jetzt klagen Sie vor dem Staatsgerichtshof dagegen, dass die Abgeordneten im Plenarsaal Maske tragen müssen. Ich habe es mir durchgelesen. Sie begründen das unter anderem damit, dass die Maske zu posttraumatischen Störungen und Herpes führen könnte.

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Um auf so etwas zu kommen, muss man schon ziemlich verquer denken. Jede Krankenschwester trägt Maske, Schulkinder bekommen das hin, aber die Burschenschafter und die Identitären von der AfD haben Angst vor Traumata und Herpes an den Lippen des Volkskörpers.

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Es ist doch lächerlich, was Sie hier machen.

Ich komme zum Schluss meiner Rede. Die Infektionszahlen sind zu hoch. Wir brauchen dringend geeignete Maßnahmen. Ich habe in meiner Rede dargestellt, dass der Bund und die Länder eben nicht bereits alle Möglichkeiten z. B. im Arbeitsleben, in den Schulen und im ÖPNV ausgeschöpft haben, sodass nur noch Ausgangssperren und nichts anderes blieben. Eine Ausgangssperre ist ein starker Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte. Die Einschränkung der Grundrechte muss eng begrenzt und gut begründet sein. Die Parlamente müssen einbezogen werden. Dort müssen die Debatten öffentlich geführt werden, und zwar nicht erst, wenn die Verordnungen beschlossen sind.

Herr Ministerpräsident, bevor Sie heute die Ausgangssperren verkündet haben, die Sie gestern Abend vor dieser Debatte beschlossen haben, hätten Sie die Möglichkeit gehabt, diese Debatte heute hier zu führen und danach die Entscheidungen zu treffen. Das wäre sinnvoller gewesen. Dann hätten wir eine öffentliche Debatte hier gehabt. Wir hätten auch eine Einbeziehung des Parlaments gehabt. Ich bedauere, dass Sie diese Chance auch dieses Mal wieder haben verstreichen lassen. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt Freie Demokraten)