Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Janine Wissler zur Rückkehr zum Diplom

Janine Wissler
Janine WisslerWissenschaft

In seiner 42. Plenarsitzung am 28. Mai 2020 diskutierte der Hessische Landtag auf Antrag der AfD über eine Rückkehr zu Diplom-Studienabschluss. Dazu die Rede unserer Fraktionsvorsitzenden und hochschulpolitischen Sprecherin Janine Wissler.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Auf Antrag der AfD diskutieren wir heute über die Bologna-Reform. Die AfD beantragt die Rückkehr zu den Abschlüssen Diplom, Magister und Staatsexamen – wobei Letztere sowieso erhalten geblieben sind und gar nicht abgeschafft wurden, wie die AfD behauptet.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Das habe ich gar nicht gesagt!)

Aber bekanntermaßen lassen Sie sich durch Tatsachen ja nicht in Ihrem Weltbild beirren.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Sie sollten einfach einmal zuhören!)

– Ich habe Ihren Antrag gelesen. Da steht das drin, Herr Dr. Grobe.

Die AfD begründet ihre Bologna-Kritik mit der „Identität der gewachsenen deutschen Hochschullandschaft“. Nun gibt es viele gute Gründe, die Bologna-Reform zu kritisieren; aber der AfD geht es nicht um die Belastung von Studierenden, nicht um die zunehmende Ökonomisierung von Hochschulen, nicht um die fehlende soziale Durchlässigkeit. Ihnen geht es einmal mehr um krude Deutschtümelei und vermeintliche deutsche Identität.

(Beifall DIE LINKE und Dr. Daniela Sommer (SPD) – Zurufe AfD: Oh nein, oh nein!)

Die AfD bezieht sich in ihrem Antrag und auch in ihrem Programm positiv auf Wilhelm von Humboldt und das humboldtsche Bildungsideal.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Sie aber nicht!)

Dabei steht das im krassen Widerspruch zum Welt- und Menschenbild der AfD.

(Beifall DIE LINKE und Dr. Daniela Sommer (SPD) – Zurufe AfD: Nein!)

Humboldt sah in Universitäten einen Ort, an dem sich selbstbestimmte autonome Individuen als Weltbürger entwickeln und frei entfalten sollten – als Weltbürger wohlgemerkt, nicht als Reichsbürger.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Oh, oh, oh!)

Die AfD – und Herr Dr. Grobe als Burschenschafter ganz besonders – steht dagegen für Korpsgeist, für geistige und nationale Enge.

Wenn Sie Humboldt in Ihrem Antrag schon positiv erwähnen, möchte ich Ihnen einmal ein Zitat von Humboldt vorlesen. Er hat nämlich geschrieben:

Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, ... so ist es die Idee der Menschlichkeit: das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln.

(Beifall DIE LINKE und Dr. Daniela Sommer (SPD))

Das ist Wilhelm von Humboldt. Das erwähne ich für den Fall, dass der AfD diese links-grün versifft anmutende Multikulti-Aussage Humboldts bisher nicht bekannt war.

(Heiterkeit Ministerin Angela Dorn – Vereinzeltes Lachen AfD)

Ohne Humboldt verklären zu wollen, merke ich an: Sein Streben nach einer menschlichen Gesellschaft der Gleichen steht im krassen Widerspruch zu all dem, was Sie sagen.

(Zurufe AfD: Nein!)

Die Wilhelm von Humboldt Stiftung bezeichnet Humboldt übrigens als einen Vordenker der Geschlechterforschung oder Genderforschung, wie Sie zu sagen pflegen, gegen die Sie hier dauernd polemisieren.

(Heiterkeit DIE LINKE und SPD – Zuruf AfD: Wahrscheinlich auch Kommunisten!)

Er hat sich mit Geschlechterforschung sehr früh auseinandergesetzt. Bei Humboldt heißt es:

So viel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln, ist im höheren Sinn des Wortes Leben.

Bei Ihnen geht es möglichst um Abschottung von der Welt. Kulturelle Vielfalt und kultureller Austausch sind Ihnen generell ein Graus.

(Zuruf Andreas Lichert (AfD))

Humboldt setzte sich für akademische Freiheit und eine universitäre Bildung ein, die keine berufsbezogene, sondern eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Bildung sein sollte.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Kommen Sie doch mal zum Thema!)

Dabei legte er einen besonderen Schwerpunkt auf die Philosophie. Er hielt sie für eine Grundwissenschaft, die die anderen Disziplinen verbinden sollte. Er beschäftigte sich sehr intensiv mit Sprachwissenschaften. Das alles sind Fachbereiche, die bei Ihnen nicht so große Wertschätzung erfahren, sondern die Sie in der Regel verhöhnen.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Was?)

Was die AfD von der Freiheit von Forschung und Lehre und demokratischen Entscheidungsprozessen an Hochschulen hält, haben wir hier oft gemerkt, wenn Sie skandalisiert haben, dass eine Gesellschaftswissenschaftlerin Präsidentin einer Technischen Universität wird – demokratisch gewählt, wohlgemerkt. Wenn Sie gegen Forschungsprojekte stänkern, die nicht in Ihr Weltbild passen, den Klimawandel leugnen und ganze Wissenschaften verunglimpfen,

(Zuruf Robert Lambrou (AfD))

dann zeigen Sie, was Sie von der Freiheit von Forschung und Lehre sowie von der akademischen Unabhängigkeit halten.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD – Widerspruch AfD)

Herr Grobe, Sie tragen die Magisterabschlüsse wie eine Monstranz vor sich her. Ich sage es einmal so: Auch ein Magisterabschluss ist kein Garant für Lernerfolg. Schauen Sie sich an: Sie haben Geschichte studiert und sind heute bei der AfD.

(Heiterkeit und lebhafter Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD – Heiterkeit CDU – Große Heiterkeit Ministerin Angela Dorn – Zuruf Dr. Frank Grobe (AfD))

– Sie haben das eine oder andere Seminar offensichtlich nicht besucht.

(Dr. Frank Grobe (AfD): Ich habe gearbeitet, im Gegensatz zu Ihnen!)

So viel zur AfD. Nun einige Einschätzungen der LINKEN zur Bologna-Reform: Vor 20 Jahren verabschiedeten die europäischen Bildungsminister die Bologna-Erklärung. Das war der Beginn einer grundlegenden Hochschulreform. Der Bologna-Prozess orientierte sich an der Lissabon-Strategie, die vorsah, dass die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden sollte.

Bei der Umgestaltung der Hochschulen standen nicht etwa soziale Durchlässigkeit und Demokratisierung im Vordergrund, sondern Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit.

In der Praxis bedeutete das vor allem eine Verkürzung der Studienzeit und die Reduzierung der Studieninhalte. Die Studiengänge wurden stärker auf die Arbeitsmarktbefähigung ausgerichtet, und bei der Entrümpelung der Lehrinhalte landete die kritische Wissenschaft als Erstes auf dem Müll. „Praxisnähe“ wurde das genannt. Gegen Praxisnähe hat niemand etwas, aber die europäischen Regierungen haben wirtschaftliche Interessen zum Maßstab für die neoliberale Umgestaltung der Hochschulen gemacht.

Mit der Bologna-Reform wurde ein zweistufiges System von Bildungsabschlüssen eingeführt. Nach dem Bachelor wurde eine weitere Bildungshürde eingezogen: der Master, der einer kleinen Elite vorbehalten sein sollte – eine Abwertung eines Großteils der Akademikerabschlüsse und Eliteförderung für eine privilegierte Minderheit.

Die Modularisierung führte zu einer Verschulung und Verdichtung des Studiums, lässt wenig Platz für selbstbestimmtes Lernen und führte zu einem Übermaß an Klausuren und Prüfungen. So wurde das Studium zur Punktejagd. Nicht selten haben Studierende eine 40-Stunden-Woche, wohlgemerkt, ohne Jobben, und ganz zu schweigen von politischem, familiärem und kulturellem Engagement.

Zwei Drittel aller Studierenden müssen arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Das kollidiert mit Anwesenheitspflichten bei Seminaren und engen Prüfungsrhythmen. Immer mehr Studierende leiden unter dem dauernden Stress, Überforderung und Leistungsdruck. Durch Bologna sollte die internationale Mobilität von Studierenden gefördert werden, aber Mobilität ist nachweisbar vom sozialen Hintergrund abhängig. Niedriges BAföG, viel zu hohe Mieten und zu wenige Plätze in Studierendenwohnheimen erschweren Hochschulwechsel und Auslandssemester.

Auch für das Hochschulpersonal hat sich die Situation eher verschlechtert. Die Betreuungsrelation ist schlechter geworden, und immer mehr Verträge sind befristet. Deswegen ist eine Reform der Reform dringend nötig.

Erstens. Der Lerndruck muss reduziert werden. Lernen braucht Raum, Lernen braucht Zeit. Die Studiengänge müssen auf ihre Studierfähigkeit überprüft, und allen Studierenden muss das Recht auf Teilzeitstudium gegeben werden.

(Beifall DIE LINKE und Torsten Warnecke (SPD))

Frau Ministerin, während der Corona-Krise gilt das ganz besonders. Angesichts lange geschlossener Bibliotheken, fehlender Kinderbetreuung, ausgefallener Seminare und von Finanznöten müssen wir den Studierenden in Hessen die Möglichkeit geben, Prüfungen zu verschieben und nachzuholen, damit sie nicht alles in diesem Semester machen müssen, in dem sie ohnehin schon sehr beansprucht sind.

Zweitens. Soziale Durchlässigkeit muss zum wichtigsten Ziel der Hochschulpolitik werden. Der Anteil von Studierenden aus finanzschwachen Elternhäusern muss gesteigert werden. Chancengleichheit bedeutet natürlich auch, Geschlechtergerechtigkeit an den Hochschulen zu verankern. Dabei ist insbesondere bei den Professorinnen und Professoren eine Menge zu tun.

(Beifall DIE LINKE und Torsten Warnecke (SPD))

Drittens. Der Master muss zum Regelabschluss werden. Weder Quote noch Note dürfen die Zulassung zum Masterstudium beschränken. Zu wenige Masterstudienplätze bedeuten soziale Selektion und Bildungsabbau.

Viertens. Eine Studienreform muss zu mehr Qualität im Studium führen. Dazu fehlen die notwendigen finanziellen Mittel. Eine qualitative Studienreform geht nur mit deutlich mehr Geld und einer besseren Personalausstattung.

(Beifall DIE LINKE)

Natürlich müssen wir fünftens über die Demokratisierung der Hochschulen und über die Stärkung der akademischen Selbstverwaltung reden, weil die Demokratie an den Hochschulen in den letzten Jahren abgebaut wurde.

Unter dem Deckmantel des Bologna-Prozesses wurden Bildungs- und Demokratieabbau an den Hochschulen vorangetrieben und weitere Bildungshürden geschaffen; das ist unsere Kritik am Bologna-Prozess.

(Zuruf Andreas Lichert (AfD))

Aber auch vor Bologna waren die deutschen Hochschulen weit vom Bildungsideal Humboldts und von sozialer Durchlässigkeit entfernt.

Das deutsche Bildungssystem gleicht einem Flaschenhals – und das lange vor dem Hochschulzugang. Bereits in den frühen Jahren, und zwar viel zu früh, wird entschieden, welche Schulform ein Kind besuchen soll. Bildung ist in Deutschland immer noch abhängig von der sozialen Herkunft. Das muss sich ändern, wenn Bildung die Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten fördern soll.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Unser Schulsystem kompensiert die unterschiedlichen Startchancen von Kindern nicht, sondern verfestigt sie und setzt auf soziale Auslese.

Ich fasse zusammen: Die Bologna-Reform ist grundsätzlich zu kritisieren, aber die AfD hat auch dazu nichts Sinnvolles beizutragen.

(Zustimmung Heidemarie Scheuch-Paschkewitz (DIE LINKE) – Lachen AfD)

Die Bildungspolitik der AfD steht nicht in der Tradition Humboldts, sondern eher in der Tradition der Napola. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)