Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024
Rede
Rede zu den Berufsverboten
Rede von Willi van Ooyen am 26. Januar 2017
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Präsident, meine Damen und Herren,
Am 28. Januar 1972, also vor 45 Jahren, gebar die Runde der Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt auf Vorschlag der Innenministerkonferenz den »Radikalenerlass«, die Berufsverbote.
Die Initiative zu dieser Demokratievernichtungsentscheidung, von der Willy Brandt (SPD) später als einem schweren Fehler seiner Regierung sprach, ging von den sozialdemokratisch regierten Bundesländern Bremen (Verweigerung der Ernennung von Horst Holzer zum Professor) und Hamburg (Antikommunismus-Beschluss) aus. Kommunisten, Sozialisten, Linke im Allgemeinen, Radikale des Wortes und/oder der Tat sollten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Der »Radikalenerlass« traf Postboten wie Eisenbahner, Zöllner, wie Sekretärinnen und Beamte im Bundesdienst ebenso wie Beamte in den Ländern und Beschäftigte in den Kommunen.
Der von Teilen der APO (Außerparlamentarische Opposition) propagierte »Marsch durch die Institutionen« sollte, so die Herrschenden, in der Anpassung der Marschierenden und nicht in der Umgestaltung der Institutionen enden, wie nicht nur die Beispiele Joseph Fischer und Gerhard Schröder exemplarisch dokumentieren:
Die Revolution integrierte einerseits ihre Kinder, zog andererseits für die Anpassungsverweigerer Grenzen. Das »Eindringen« von Antikapitalisten – spontanen wie studierten, »organisierten« wie »freien« – in den Staatsapparat mit der Verweigerung, sich anzupassen, und statt dessen mit der Absicht, den Staat verändern zu wollen, wurde zum Schreckensbild Nr. 1 und der Kampf gegen Radikale wurde zur Staatsaufgabe.
Besonders im Visier der Berufsverbieter in Hessen waren Lehrerinnen und Lehrer, Beschäftigte an Hochschulen im Allgemeinen und die Justiz im Speziellen. Was 1968 begann, die Befreiung der Republik vom Mief der Reaktion, sollte 1972 gewendet werden.
Am Samstag, 28. Januar also jährt sich der Radikalenerlass zum 45. Mal. Es scheint lange her, doch es ist noch nicht vorbei.
Wer die Medien aufmerksam verfolgt, den lässt der Hauch des Kalten Krieges bis heute frösteln: Bereits vor wenigen Jahren wurde ein Lehrer aus Heidelberg auch in Hessen wegen seiner Mitgliedschaft in einer antifaschistischen Initiative mit einem Berufsverbot belegt. Noch im Dezember durfte die Universität München zunächst einen jungen Wissenschaftler nicht als Doktoranden einstellen. Der Verfassungsschutz wurde eingeschaltet.
In Folge des Radikalenerlasses kam es zu mehr als 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.250 Ablehnungen von Bewerberinnen und Bewerbern sowie 265 Entlassungen. 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst wurden in Form einer Regelanfrage vom Verfassungsschutz auf ihre »politische Zuverlässigkeit« überprüft.
Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie nicht die nötige Gewähr dafür böten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Dabei wurde ignoriert, dass sie ihren Amtseid nicht auf die Marktwirtschaft, eine bestimmte Politik oder Regierung ableisten, sondern auf die Verfassung. Und diese lässt ein breites Spektrum verschiedener Meinungen zu. Nehmen sie nur die Hessische Verfassung, in der sozialistische Vorstellungen ein wesentliches Fundament finden.
Keinem der Betroffenen konnte vor Gericht jemals eine konkrete Verfehlung nachgewiesen werden. Trotzdem haben sich die Behörden bei keinem von ihnen jemals entschuldigt und niemand ist offiziell rehabilitiert worden. Und schlimmer noch: Der Radikalenerlass hat – weit über den Kreis der Betroffenen hinaus – Angst und Duckmäusertum geschürt. Politische Arbeit wurde kriminalisiert und die Auswirkungen sind bis heute spürbar!
Viele der Betroffenen haben sich über Jahre hinweg gegen das ihnen drohende oder gegen sie verhängte Berufsverbot gewehrt. Sie haben mit ihrem Einsatz für die Grundrechte, für Meinungs- und Organisationsfreiheit viel für die Demokratie getan.
Ich bin dankbar für ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen!
Zur Demokratie kann nur erfolgreich erziehen, wer für Schülerinnen und Schüler selbst als Demokratin und Demokrat, als politischer Mensch erkennbar wird. Lehrkräfte dürfen nicht indoktrinieren. Aber ein politisches Neutrum erzieht nicht zur Demokratie, sondern zur politischen Enthaltsamkeit!
Die Geschichte der Berufsverbote ist bis heute nicht aufgearbeitet. Deshalb hat auch die hessische GEW damit begonnen, sich kritisch mit den Berufsverboten und den Unvereinbarkeitsbeschlüssen in den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. In einem aktuellen Beschluss bittet die GEW Hessen, die in den siebziger Jahren ausgeschlossenen Mitglieder um Entschuldigung und erklärt die Ausschlüsse für nichtig.
In den letzten Wochen hat sich in Hessen ein „Bündnis Berufsverbote Hessen“ gegründet, in dem GEW, ver.di, IG Metall, VVN/BdA und weitere Organisationen und Betroffene zusammenarbeiten. Zu den Zielen gehören vor allem die Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen sowie die Herausgabe und Löschung der über sie beim Verfassungsschutz gespeicherten Daten.
Sie engagieren sich für eine Auseinandersetzung mit der schwerwiegenden Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Politik der Berufsverbote. Wer würde sich noch für Frieden und gegen Krieg, gegen das neue Erstarken rechter, menschenverachtender Ideologien oder gegen Atomkraftwerke engagieren, wenn politische Betätigung diskriminiert wird?
Deshalb ist der Kampf gegen Berufsverbote ein Eintreten für demokratische Verfahren und Inhalte insgesamt und ein Thema, dessen Diskussion eine breite Öffentlichkeit verdient.
Besonders bitter ist es, daran zu erinnern, dass zu den ersten Berufsverbotsopfern Kinder von Widerstandskämpfern gegen den Faschismus gehörten.
Die Töchter von Widerstandskämpfern wie Doris Fisch, Anne Kahn und Silvia Gingold, Tochter des jüdischen Widerstandskämpfers in der französischen Resistance, Peter Gingold, wurden in Hessen mit Berufsverboten belegt.
Am 12. Januar fand beim Wiesbadener Verwaltungsgericht der Prozess von Silvia Gingold gegen das Land Hessen statt. Das Wiesbadener Verwaltungsgericht war an diesem Tag kurzfristig in einer Begegnungsstätte der Betroffenen von Berufsverboten, deren Angehörigen und Sympathisanten verwandelt, in dessen größten Saal der Prozess von Silvia Gingold gegen das Land Hessen lief. Silvia Gingold verlangte, dass sie – sie ist inzwischen Rentnerin – nicht weiterhin vom Verfassungsschutz beobachtet werde und wollte, dass die gesammelten Akten gelöscht werden.
In den Akten wird ihr der Vorwurf gemacht, dass sie in Veranstaltungen aus der Biographie ihres Vaters, des Antifaschisten Peter Gingold, vorgelesen habe, Reden zum Ostermarsch gehalten habe und sich an den Schwur von Buchenwald orientiere. Der Schwur lautet:
„Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“
Der Vorwurf des Verfassungsschutzes in den Akten lautet, dass sich Silvia Gingold nicht mit der Vernichtung des Faschismus begnügen würde, sondern auch dessen Wurzel vernichtet werden solle, als Ablehnung der kapitalistischen, freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Folglich handelt es sich dabei nicht mehr um die Konformität mit dem Grundgesetz, dem Verfassungsschutzbehörde geht es nicht um Rechtsgrundlagen und Normensystem, sondern um Treue zum Staat und damit zu den Machtverhältnissen.
Nicht mehr das konkrete Grundgesetz, sondern die »freiheitliche demokratische Grundordnung« wird zur Prüfungsvorgabe. Bereits die bloße Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei, einer legalen Partei, oder im Marxistischen Studentenbund Spartakus, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, im Kommunistischen Bund oder dem Bund Westdeutscher Kommunisten oder, oder, oder … begründen einen »Anfangsverdacht«.
Die vom Verfassungsgericht verordnete Einzelfallprüfung endete in der Regelanfrage beim Verfassungsschutz und bei dem Recht, angehört zu werden. Dieses vermeintliche Recht als Schutz vor Willkür wurde allerdings zum Instrument der Willkür, zur Einrichtung der Inquisition.
Deutschland hat die französische und die englische Sprache bereichert: Berufsverbot und Radikalenerlass waren nicht übersetzbar. In keinem anderen europäischen Land, in keiner anderen europäischen Sprache gilt »radikal« als Vorwurf oder Schimpfwort.
Im Grunde verbindet man mit dem Begriff „Radikal“ Mut und Klarheit. Radikal denken und radikal handeln, wie es Marx sich selbst und anderen abforderte, heißt, alles von der Wurzel her zu denken und entsprechend zu handeln.
Nach über 45 Jahren ist keine staatliche Entschuldigung an die Opfer der Berufsverbote erfolgt, weder an die Bespitzelten, an die Eingeschüchterten und Erschrockenen, noch an die, deren berufliche Entwicklungswege verbaut wurden: ganz zu schweigen von denjenigen , die aus Angst um ihre beruflichen Möglichkeiten auf ihre freie Meinungsäußerung und freie Entfaltung verzichtet haben.
Es soll verdrängt werden, dass über die Republik Wellen der Einschüchterung und der Verfolgung hinweg rollten. Nach dem KPD-Verbot gab es Tausende Kommunisten-Prozesse und eine »Säuberung« des öffentlichen Dienstes. Nach der 68er Rebellion kam die reaktionäre Wende mit den Berufsverboten, und nach der deutschen Einheit wurde der Elitewechsel Ost zur Staatsräson.
Stets sollte der Staatsapparat veränderungsfrei gehalten werden. Stets aber gab es auch Solidarität mit den Betroffenen, neuen Widerstand und einen neuen Anlauf zur Veränderung. Auch heute.
Berufsverbote waren Unrecht, und um sie durchzusetzen, musste das Recht gebeugt werden. Das Prinzip des Rechtsstaates erfordert es, sich bei den Opfern der Berufsverbote zu entschuldigen. Ihre vollständige Rehabilitierung steht immer noch aus. Eine Entschuldigung bei den Opfern wäre Aufgabe des Landtages und der Landesregierung.
Die europäischen Urteile des Menschenrechtsgerichtes in Straßburg schafften die Berufsverbote 1992 endlich ab, und trugen zur Wiederherstellung von Recht bei. Richter und engagierte Rechtsanwälte wie Gerhard Schröder und Richter trugen dazu bei, die Ära der Berufsverbote zu beenden. Die Vollendung und Erhaltung deren Wirksamkeit ist dennoch Generationenaufgabe.
Das „Bündnis Berufsverbote Hessen“ hat mit einer Ausstellung, die bereits im November im Frankfurter Gewerkschaftshaus gezeigt wurde, ein Zeichen für die Rehabilitierung der Betroffenen gesetzt. Diese Ausstellung wird in allen Hessischen Gewerkschaftshäusern und in Universitäten – aber auch im Marburger Rathaus in den nächsten Wochen zu sehen sein.
Die faktische Rehabilitierung der Betroffenen bleibt in Hessen unvollendet und immer noch zu leisten. Deshalb sollte mit der historischen Aufarbeitung begonnen werden.