Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Saadet Sönmez - Spätaussiedler*innen brauchen mehr als Klöppelkurse und Trachtenumzüge

Fraktion im Hessischen LandtagAbgeordneteSaadet SönmezThemenBildungKulturMigration und IntegrationSoziales

In seiner 123. Plenarsitzung am 08. Dezember 2022 diskutierte der Hessische Landtag anlässliches des Setzpunktes der Fraktion der CDU zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Die Bewahrung des Kulturgutes von Spätaussiedlern und Heimatvertriebenen spielt in Hessen eine wichtige Rolle". Dazu die Rede unserer migrations- und integrationspolitischen Sprecherin Saadet Sönmez.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren!

Die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen infolge des Zweiten Weltkriegs war ein epochales Ereignis in nie da gewesener Größenordnung.

Dieser Satz ist dem letzten Bericht der Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler zu entnehmen; Herr Schad hat das hier noch einmal bekräftigt. Laut dem aktuellen Bericht des UNHCR sind aktuell 103 Millionen Menschen weltweit gewaltsam Vertriebene. 6,8 Millionen Syrer haben ihr Land verlassen, fast 7 Millionen von ihnen sind intern Vertriebene. Rund 12 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer mussten ihre Heimatregion oder gar das Land verlassen. 6,1 Millionen Afghanen sind aktuell auf der Flucht. Über 4 Millionen Menschen sind im Südsudan durch den Krieg heimatlos geworden. Mehr als 4 Millionen Jemeniten sind intern Vertriebene. 1,2 Millionen Menschen haben sich gezwungen gesehen, ihre Heimat Myanmar zu verlassen.

Meine Damen und Herren, das „epochale Ereignis in nie da gewesener Größenordnung“ erleben wir aktuell also erneut. All diese Menschen sind Heimatvertriebene, und viele von ihnen leben jetzt unter uns. Sie mögen keine deutsche Abstammung haben, unsere Sprache nicht von Anfang an sprechen, nicht Hans oder Marie heißen; aber auch sie sind Flüchtlinge, deren Kulturgut zu bewahren genauso eine Aufgabe unserer Gesellschaft sein sollte, wie wir es hier in Hessen angeblich so vorbildlich bei heimatvertriebenen Deutschen und Spätaussiedlern tun.

(Beifall DIE LINKE)

Den heimatvertriebenen Deutschen kommt im Antrag, aber auch in den Publikationen und Reden der Landesregierung viel Dank für ihren Beitrag zum Wiederaufbau nach dem Krieg zu – zu Recht. Meine Damen und Herren, ja, zu Recht. Natürlich haben Vertriebene damals einen enormen Beitrag zu der Gesellschaft geleistet, in der wir jetzt alle leben. Dafür sind wir natürlich zu Dank verpflichtet. Das ist richtig. Die Gastarbeitergeneration hat das allerdings auch getan. Die im Rahmen von Anwerbeabkommen Zugewanderten und ihre Nachkommen machen nach wie vor den größten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in Hessen und bundesweit aus. Das Lob auf sie und die Anerkennung für ihre Leistungen fallen allerdings meistens sehr kleinlaut aus.

(Beifall DIE LINKE)

Viele von ihnen haben nach wie vor nicht einmal die deutsche Staatsangehörigkeit; und auf eine Landesbeauftragte können sie wohl noch sehr lange warten. Zugewanderte zu integrieren, ihnen eine Chance auf echte Teilhabe zu geben, ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft anzuerkennen und ihr Kulturgut zu bewahren, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, meine Damen und Herren,

(Beifall DIE LINKE)

und zwar unabhängig von der Abstammung, Nationalität und der Staatsangehörigkeit. Bei den einen ist es halt schützenswertes Kulturgut und bei den anderen unter Umständen Integrationsunwilligkeit.

Leider fällt jedoch auch die Bilanz der Integrationserfolge von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern eher zweifelhaft aus, nicht, weil sie nicht wollten, sondern schlichtweg, weil ihnen die Möglichkeit verwehrt wurde. Vielen von ihnen, die gerade in der Hochphase in den Neunzigerjahren nach Deutschland eingewandert sind, wurde z. B. keine Möglichkeit gegeben, ihren Berufsabschluss anerkennen zu lassen. Gerade in den frühen Zweitausendern war die Arbeitslosenquote von Spätaussiedlern in Hessen deutlich höher als die von Ausländern und viermal so hoch wie die von hiesigen Deutschen. Man erkennt, man hat da also auch Deutsche zweiter Klasse geschaffen.

(Beifall DIE LINKE)

Nach wie vor finden sich viele von ihnen im Niedriglohnniveau und überwiegend als Leiharbeiter im produzierenden Gewerbe wieder. Nur wenigen ist es gelungen, durch Neu- oder Nachqualifizierung mittlere Einkommen zu erzielen. Noch immer müssen vor allem hoch Qualifizierte nach ihrem Umzug nach Deutschland einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen, da ihre Abschlüsse eben immer noch nicht anerkannt werden, und das angesichts des viel beklagten Fachkräftemangels. Meine Damen und Herren, das ist auch eine fragliche Situation.

Manche haben sich auch bereits kaputtgeschuftet. Die Geschichte des Vaters unserer Referentin steht hier nur exemplarisch für viele andere. Als junger Mann mit einer Elektrotechnikerausbildung Ende der Neunzigerjahre in Deutschland angekommen, landete er sehr schnell als vermeintlich ungelernte Kraft in einer körperlich belastenden Tätigkeit. Über Jahre hinweg gab es kein Wochenende und keine Feiertage. Der Vollzeitjob reichte kaum, um über die Runden zu kommen. Mit 55 Jahren scheidet er nun aus gesundheitlichen Gründen aus dem Arbeitsleben aus und muss um die Rente und um seine Existenz bangen, meine Damen und Herren. Menschen wie ihm ist mit Klöppelkursen und Kochrezepten leider nicht geholfen.

(Beifall DIE LINKE)

Denn auch die Gefahr, in Altersarmut zu geraten, ist unter Aussiedlern höher als bei der deutschen Durchschnittsbevölkerung. Dies hat absolut nichts damit zu tun, dass sie keine Leistung erbracht haben, sondern ist schlicht auf eine kurzsichtige Rentenpolitik zurückzuführen. Aufgrund dieser verfehlten Politik beziehen viele Spätaussiedler eine Rente unterhalb der Armutsgrenze. Da muss man Herrn Schad recht geben, da ist mit einem Fonds auch nicht viel weitergeholfen.

(Beifall DIE LINKE)

Deswegen wird eine ideelle Förderung der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften nicht reichen. Heimatstuben, Klöppelkurse sowie Festumzüge beim Hessentag mögen dazu beitragen, die Identität der Vertriebenen zu stärken und eine Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten. Sie helfen ganz vielen Menschen, die aus den Vertreibungsgebieten oder aus der ehemaligen Sowjetunion zu uns gezogen sind, eben nicht bei ihren konkreten Sorgen, meine Damen und Herren. Dafür braucht es ganz andere Maßnahmen, wie z. B. einen armutsfesten Mindestlohn und eine Grundsicherung, die den Namen auch verdient, faire Renten, bezahlbaren Wohnraum, aber auch den Ausbau der Strukturen für die Berufsanerkennung und -neuqualifizierung und Hilfe beim Spracherwerb für die neu Zuziehenden.

Das wären Aufgaben, denen sich Ihre hoch bezahlte Landesbeauftragte einmal widmen könnte. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)