Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

"Mit ihrer Weigerung, die Erbschaftsteuer zu reformieren oder die Vermögensteuer wieder einzuführen, ist die CDU die Schutzpatronin von leistungslosem Wohlstand"

Janine Wissler
Janine WisslerSoziales

Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit – Arbeit, Solidarität, Menschlichkeit (Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, Ds. 20/173)

 

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Zunächst einmal: Ich finde es sehr gut, dass wir heute im Hessischen Landtag über die Zukunft des Sozialstaats diskutieren; denn das betrifft sehr viele Menschen – eigentlich alle Menschen, die in Hessen leben. Deswegen finde ich die Debatte am heutigen Tag gut und wichtig. Ich habe mich zu Wort gemeldet, um noch zu einigen Punkten etwas zu sagen. Frau Ravensburger, anfangen möchte ich bei Ihnen; denn Sie haben während Ihrer ganzen Rede über das Leistungsprinzip gesprochen.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ravensburg!)

– Entschuldigung, Frau Ravensburg, es tut mir leid. Das „er“ nehme ich zurück. – Sie haben vom Leistungsprinzip gesprochen und davon, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Da frage ich mich: Wie klingt das eigentlich in den Ohren von mehr als 500.000 Menschen in Hessen, die zu Niedriglöhnen arbeiten, die jeden Morgen aufstehen, Leistung bringen und von ihrer Arbeit nicht leben können? Wie klingt das in den Ohren von Menschen, die Vollzeit arbeiten und trotzdem aufstocken müssen? Wie klingt das in den Ohren von Pflegekräften, Reinigungskräften und Verkäuferinnen, die jeden Tag arbeiten und kaum über die Runden kommen? Wie klingt das z. B in den Ohren der Beschäftigten bei Siemens in Offenbach, die gerade ihre Jobs verlieren, obwohl der Betrieb ausgelastet ist, und die Überstunden gemacht haben, wobei der Konzern auch noch Gewinne erzielt hat? Ich frage mich: Wie klingt es in den Ohren dieser Menschen, wenn Sie davon sprechen, Leistung müsse sich lohnen, und sich dabei zynisch gegenüber Menschen verhalten, die jeden Tag Leistung bringen und trotzdem kaum über die Runden kommen? Frau Ravensburg, deswegen sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie das so behaupten können.

(Beifall DIE LINKE)

Sie reden von Leistung. Aber mit ihrer Weigerung, die Erbschaftsteuer zu reformieren oder die Vermögensteuer wieder einzuführen, ist die CDU die Schutzpatronin von leistungslosem Wohlstand. Sie schützen doch leistungslosen Wohlstand.

(Beifall DIE LINKE)

Worin besteht denn die Leistung, wenn Menschen ein Vermögen erben und deshalb nicht mehr auf Erwerbsarbeit angewiesen sind? Da gibt es keine Leistung. Reden Sie also nicht von Leistung, solange Sie leistungslosen Wohlstand durch die Nichtbesteuerung von Vermögen schützen.

(Beifall DIE LINKE – Zurufe CDU)

Natürlich brauchen wir eine Grundrente, die zum Leben reicht, und natürlich brauchen wir sie ohne Bedürftigkeitsprüfung; denn – vielleicht sollte man darauf hinweisen – Renten sind keine Almosen. Für Renten haben Menschen gearbeitet. Sie haben einen Anspruch darauf, und deshalb ist es auch richtig, dass es da keine Bedürftigkeitsprüfung gibt, sondern dass alle Menschen eine Rente haben, von der sie leben können. An der Stelle sage ich, deswegen müssen wir auch über die Rente mit 67 reden. Die muss nämlich weg, weil sie eine Rentenkürzung für all die Menschen bedeutet, die nicht in der Lage sind, bis zum Alter von 67 Jahren zu arbeiten.

(Beifall DIE LINKE)

Nun ist die Fehlentwicklung der letzten Jahre die Folge politischer Entscheidungen. Natürlich muss man da über die Agenda 2010, über Hartz IV und über die Deregulierung des Arbeitsmarkts sprechen. Die prekäre Beschäftigung und die Niedriglöhne sind kein Kollateralschaden der Agenda 2010; es war die zentrale Zielsetzung und ein integraler Bestandteil. „Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen“, hat Gerhard Schröder damals gesagt. Diesen haben wir jetzt, nämlich einen der größten in Europa; und wir haben immer mehr Menschen, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. Hartz I, die Ausweitung der Leiharbeit, und Hartz IV haben eine Rutschbahn der Löhne und eine Erosion der Tarifverträge in Gang gesetzt. Es hat die Kampfkraft der Gewerkschaften geschwächt. Deshalb sagen wir ganz deutlich: Die Hartz-Gesetze haben keine Fehler; sie sind ein Fehler, und deshalb müssen sie zurückgenommen werden, wenn wir den Sozialstaat wirklich wiederherstellen wollen.

(Beifall DIE LINKE)

Daher reichen eben keine kosmetischen Korrekturen. Deshalb muss sich die SPD fragen: Wollen wir Hartz IV einfach in Bürgergeld umbenennen, oder was machen wir mit den Sanktionen? Da bin ich nicht einverstanden; ich bin der Meinung, dass diese Sanktionen abgeschafft werden müssen. Sie sind eine Drangsalierung von Erwerbslosen. Existenzminimum heißt Existenzminimum, weil man es nicht kürzen darf. Man darf niemandem das Existenzminimum kürzen und ihn in Gefahr bringen, dass er seine Wohnung verliert, dass er seine Kinder nicht mehr ernähren kann. An dieser Stelle haben wir einen Dissens.

(Beifall DIE LINKE)

Die Zumutbarkeitskriterien, dass man gezwungen ist, jeden Job anzunehmen, egal was man vorher gemacht hat, egal wie er bezahlt war: Will die SPD dort ran? Wer die Kampfkraft der Gewerkschaften wieder stärken will, der muss an die Zumutbarkeitskriterien ran und natürlich an die Regelsätze sowie an deren Höhe. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. Es geht bei Hartz IV nicht nur um Geld, es geht auch um Würde.

(Beifall DIE LINKE)

Ich sage einmal ganz ehrlich: Den behördlichen Einsatz, der zur Gängelung von Erwerbslosen an den Tag gelegt wird, würde ich mir einmal wünschen, wenn es um den Kampf gegen Steuerhinterziehung geht. Das wäre auch einmal ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit; und an dieser Stelle wäre sehr viel mehr zu holen.

(Beifall DIE LINKE)

(Vizepräsident Frank Lortz: Frau Kollegin Wissler, Sie müssen zum Schluss kommen.)

Mein letzter Satz, Herr Präsident. – Das Problem ist natürlich: Die SPD regierte in den letzten 13 Jahren neun Jahre lang mit der Union. Ich will nur an Tony Sender, an die Frankfurter Reichstagsabgeordnete, erst USPD dann SPD, und Frauenrechtlerin, erinnern. Das ist mir letztens in die Hände gefallen. Sie hat sich schon 1923 gegen die GroKo ausgesprochen – in einer schönen Broschüre mit dem Titel: „Große Koalition? – Gegen ein Bündnis mit der Schwerindustrie“. Das war damals richtig, und es ist heute richtig. Deshalb: Wir halten es für richtig, eine Debatte –

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist voll daneben, Frau Wissler!)

(Vizepräsident Frank Lortz: Kollegin Wissler, das ist ein sehr langer Schlusssatz. Ich würde Sie bitten, jetzt so langsam zum Schlusssatz zu kommen, damit der Satz einen Sinn hat. Bitte.)

Deshalb finde ich es wichtig, dass wir hier über die Frage des Sozialstaats diskutieren; aber man muss eben auch bereit sein, die vergangenen Entscheidungen zu korrigieren.

Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)