Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

Ulrich Wilken - Stellenzuwachs in der hessischen Justiz ist richtig

Ulrich WilkenJustiz- und Rechtspolitik

In seiner 115. Plenarsitzung am 11. Oktober 2022 diskutierte der Hessische Landtag eine Regierungserklärung des Justizministers Prof. Dr. Roman Poseck. Unser rechtspolitischer Sprecher Dr. Ulrich Wilken antwortete darauf.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Eine auf allen Ebenen funktionierende Justiz ist unerlässlich für unsere Gesellschaft, nicht nur bei Opferschutz und Gewaltprävention, sondern auch bei vielen Aspekten des alltäglichen Lebens: bei Rechtsstreitigkeiten mit Behörden z. B. wegen Versagung von Leistungen, bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, in Sorgerechtsstreitsachen oder auch nur bei den notwendigen Regelungen nach einem Todesfall.

Meine Damen und Herren, eine funktionierende Justiz heißt, die rechten Kräfte in unserem Land in die Schranken zu weisen und nicht, wie mein Vorredner, ihnen Tür und Tor öffnen zu wollen.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf Andreas Lichert (AfD))

– Das Wort „Vernichtungswerk“ weise ich mit aller Schärfe zurück.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Justiz ist mehr als Staatsanwaltschaften, Richterinnen und Richter, doch fangen wir einmal mit denen an. Seit Jahren beklagt der Deutsche Richterbund vor allem eines: Richterinnen und Richter kommen mit der Arbeit nicht mehr hinterher, die Staatsanwaltschaften erst recht nicht, zu viele Verfahren, zu wenige Stellen, die Justiz ist massiv überlastet. Das gefährdet nicht nur die Gesundheit der überarbeiteten Personen, sondern auch die Funktionsfähigkeit der Justiz und damit den Rechtsstaat.

Diese starke Überlastung ist im Hause die ganzen Jahre nicht unbekannt gewesen, im Gegenteil, sie wurde immer wieder, nicht nur von uns, kritisch angesprochen. Insofern sind die Skandale, wie z. B. die Tatsache, dass in diesem Sommer mutmaßliche Straftäter aus der Untersuchungshaft entlassen werden mussten, weil die Hauptverhandlung aufgrund von Überlastungen nicht terminiert werden konnte, Skandale mit Ansage gewesen.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Überstunden sind leider die Regel in der Justiz. Sehr viele Richterinnen und Richter machen fünf oder mehr Überstunden pro Woche ohne Ausgleich, Letzteres ist in der Justiz nicht vorgesehen. Zudem arbeiten Richterinnen und Richter am Wochenende oder an Feiertagen. Dazu kommt bei den Amtsgerichten die Ruf- und Eilbereitschaft nachts und auch am Wochenende.

Ein besonderes, relativ neues Problem – Sie haben es auch angesprochen, Herr Minister – sind diese Massenverfahren wie der Dieselkomplex oder Fluggastrechteverfahren. Sie sind, das muss man leider so sagen, zu einem guten Geschäft für Teile der Anwaltschaft geworden. Zum Teil wird dort mit künstlicher Intelligenz gearbeitet, um möglichst viele komplizierte Vorwürfe vor Gericht zu bringen. Auch die Komplexität zum Teil international geprägter Strafverfahren hat deutlich zugenommen. Wir erkennen durchaus an, Herr Poseck, dass Sie auch an der Stelle aktiv werden, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Tatsächlich ist die gerade von mir und nicht nur von mir dargestellte beklagte Überarbeitung schon lange objektiv messbar geworden durch das Personalbedarfsberechnungssystem, liebevoll kurz „PEBB§Y“ genannt. Dabei werden für alle anfallenden Aufgaben Standardbearbeitungszeiten festgelegt, wie vergleichbar bei Akkordarbeit.

Je nachdem, wie viele Verfahren an den Gerichten und Staatsanwaltschaften eingehen, lässt sich so ein bestimmter Personalbedarf ermitteln. Vergleicht man diesen errechneten Personalbedarf mit dem tatsächlichen Personalbestand, zeigt sich, wie groß die Personallücke an hessischen Gerichten ist.

Ich will nicht verschweigen, dass dieses PEBB§Y durchaus umstritten ist; aber es ist das beste System, das wir haben. Deswegen müssen wir mit diesen Zahlen arbeiten. Dieses System bildet grob ab, wie hoch der Personalbedarf ist. Wenn man dann hingeht und den Personalbedarf nach PEBB§Y berechnet, was Sie auch tun, sollte unserer Meinung nach die Landesregierung die Zielvorgabe einer PEBB§Y-Belastung von 100 %, also Volllast, verfolgen; sonst macht das Ganze keinen Sinn.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Seit mindestens zehn Jahren liegt die Belastungsquote der Richterinnen und Richter sowie der Staatsanwaltschaft bei deutlich über 100 %, zum Teil bei knapp 140 %. Diesen Fakt hat die Landesregierung schlicht jahrelang ignoriert und damit die hessischen Richterinnen und Richter im Regen stehen gelassen. Das ist so auch nicht mehr gutzumachen.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Herr Minister, wir begrüßen ausdrücklich, dass sich jetzt etwas bewegt. Wir müssen es aber einordnen. Der Richterbund hat im Juli dieses Jahres 200 Richterinnen und Staatsanwälte gefordert. Sie schaffen nun 100 R-Stellen im Doppelhaushalt. Das kann also nur ein erster Schritt sein. Ich weiß, Herr Poseck, dass Sie das auch wissen.

Sie sagen selbst, dass die Belastung der Staatsanwaltschaften nach Schaffung dieser Stellen immer noch bei 120 % liegen wird, also noch immer viel zu hoch. Auch ob es weitere Massenverfahren geben wird, kann man nicht sicher sagen. Das ist aber nicht unwahrscheinlich. Wenn man jetzt noch bedenkt, was alles liegen geblieben ist, dann müssen hier weitaus mehr Stellen geschaffen werden.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Meine Damen und Herren, außerdem bleibt es dabei: Das Problem, welches Sie jetzt angehen – wir begrüßen, dass Sie es angehen –, hat die CDU verschuldet, manchmal mit Unterstützung der FDP, aber im Wesentlichen die CDU. Ihre Aktivität zeigt jetzt unmissverständlich auf, was Ihre Vorgängerin im Amt alles sträflich unterlassen hat. Das büßen wir jetzt alle, allen voran die überlasteten Justizmitarbeiterinnen und ‑mitarbeiter, aber letztendlich die gesamte Gesellschaft.

Zu einem anderen Aspekt; er ist auch schon von Vorrednern angesprochen worden. Möglich wäre sicher auch eine Entlastung der Staatsanwaltschaften durch Entkriminalisierung bestimmter Delikte. Auch Sie, Herr Poseck, haben das angesprochen. Der Bundesjustizminister hat eine Überprüfung des Strafgesetzbuches dahin gehend in Aussicht gestellt, welche Strafnormen noch zeitgemäß sind. Durch eine Entkriminalisierung von Delikten wie Fahren ohne Fahrschein, Cannabis-Konsum und Ähnlichem würde eine Menge von Kapazitäten der Staatsanwaltschaften frei. Hiermit muss der Stellenaufwuchs flankiert werden, damit eine nachhaltige Entlastung eintritt.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD – Zuruf Tobias Eckert (SPD))

Zu einer anderen Problemfacette. Man kann Stellen schaffen, wie man will, wenn es an qualifiziertem Nachwuchs fehlt. Hier muss außerdem mitbedacht werden, dass wir vor einer Pensionierungswelle stehen.

(Heike Hofmann (Weiterstadt) (SPD): Genau!)

Nicht nur die neu geschaffenen Stellen sind zu besetzen, sondern auch die frei werdenden. Dass das schwierig sein wird, hat vielfältige Gründe. Die Besoldung ist nicht wettbewerbsfähig. Da tun Sie jetzt etwas. Aber auch mit diesen Schritten, auch mit der von Ihnen auf den Weg gebrachten Erhöhung um 250 €, kann niemand mit den im RheinMain-Gebiet gezahlten Gehältern in Kanzleien und in der Wirtschaft konkurrieren.

(Beifall DIE LINKE, SPD und vereinzelt Freie Demokraten)

Deswegen ist es umso bedeutender, dass die Justiz eine besondere Attraktivität am Arbeitsplatz schaffen muss. Es geht Menschen am Arbeitsplatz schon lange nicht mehr allein ums Geld. Da müssen wir doch konstatieren: Besonders modern stellen sich die Arbeitsplätze in der hessischen Justiz nicht dar. Die Digitalisierung der hessischen Justiz hat im Prinzip noch nicht stattgefunden.

Eine aktuelle Studie von IBM Deutschland zeigt Wege auf, wie es funktionieren kann. Zur aktuellen Situation liest man dort: „Eine digitale Kommunikation mit Bürger_innen findet praktisch nicht statt.“ Nach Auffassung der Studienautoren müssen sich die Strukturen ändern. Allein mehr IT-Personal zu haben, wie Sie es auch vorsehen, hilft also nicht.

Meine Damen und Herren, wenn die Anwälte ihre Schriftsätze elektronisch einreichen, diese dann aber ausgedruckt und abgeheftet werden müssen, dann hat das nichts mit einem Digital Workflow zu tun.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

In der Außenkommunikation kann die Justiz aktuell mit E-Mails nichts anfangen. Dass sie manchmal telefonisch auch nicht zu erreichen ist, ist noch ein anderes Problem. Das sind aber Symptome, dass die hessische Justiz von der gesellschaftlichen Entwicklung abgehängt ist.

Meine Damen und Herren, ich komme zu einem anderen Bereich des Rechtssystems, der Rechtspflege. Die Belastungssituation gerade bei den Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern ist viel zu hoch und hat lange Erledigungszeiten bei den Amtsgerichten in wichtigen Bereichen zur Folge. Dort schaffen Sie jetzt gerade einmal 55 Stellen. Das ist viel zu wenig.

Diese Verfahren betreffen die hessischen Bürgerinnen und Bürger viel unmittelbarer und gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht sehr stark. Ein großer Teil der Bürgerbeschwerden, die leider in den letzten Jahren in stärkerem Maße zu verzeichnen sind, beziehen sich auf Grundbuch-, Handelsregister-, Vereinsregistersachen sowie Nachlassverfahren. Hier bestehen aufgrund des Mangels an Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern zum Teil sehr lange Erledigungszeiten.

Meine Damen und Herren, viele der Vorredner haben es auch schon gesagt: Eine Justizgewährung, die nicht zeitnah erfolgt, beschädigt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Ein Aufwuchs von 55 Rechtspflegerstellen ist ein guter Anfang, reicht hingegen nicht aus, um den gegenwärtigen Zustand spürbar zu verbessern.

Kommen wir zurück zur Digitalisierung der Justiz. Ich betrachte einen weiteren Bereich: die Justizvollzugsanstalten. Im Prinzip ist die Situation der Gerichte insofern vergleichbar mit der der Insassen in Justizvollzugsanstalten. Da ist auch niemand online.

(Heiterkeit und Beifall DIE LINKE)

Auch hier mahnen wir immer wieder eine Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung an. Begrenzter Internetzugang für Inhaftierte, digitale Kommunikation zwischen Inhaftierten und Bediensteten – auch hier müssen Konzepte entwickelt werden, die zukunftsfähig sind, um die Kommunikation zu vereinfachen und so auch die Arbeitsbelastung für die Bediensteten zu verringern.

Aber im Justizvollzug liegt noch viel mehr im Argen. Der Justizvollzug wurde in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt. Laute Rufe der Bediensteten nach Entlastung verhallten ungehört an den Außenmauern des Justizministeriums. 43 neue Stellen für den Justizvollzug helfen dort überhaupt nicht.

Herr Poseck, Sie waren auch beim Gewerkschaftstag des Bundes der Strafvollzugsbediensteten, und Sie haben die Rede von Frau Kannegießer gehört. Sie haben dort gehört, dass der Justizvollzug 130 unbesetzte Stellen hat und mit noch weiteren Stellen im Prinzip nichts anfangen kann, weil man gar nicht weiß, wie sie besetzt werden sollen, da der Beruf unattraktiv ist. Die Vergütung ist miserabel angesichts der hohen Anforderungen; denn die Bediensteten tragen eine hohe Verantwortung, die sie gar nicht mehr tragen können, weil es schlichtweg zu viel geworden ist. Die Personalbemessung ist fehlerhaft, sodass immer ein Mangel herrscht.

Ich möchte aus der Rede von Frau Kannegießer zitieren, weil es wichtig ist, dass sie auch hier im Haus gehört wird:

Alle haben mittlerweile Angst, dass es in dieser Personalnot demnächst irgendwo knallt, richtig knallt; damit meinen wir Gehorsamsverweigerung und Revolte, Gewaltübergriffe, Geiselnahmen.

Das sind nicht meine Worte. Das hat Frau Kannegießer gesagt – wenn das kein dringlicher Handlungsauftrag ist. Wir erwarten von Ihnen, Herr Poseck, dass Sie hier umgehend einen Plan vorlegen, wie Bedienstete entlastet, Strukturen verbessert und der Beruf aufgewertet werden können. Als allererste Maßnahme – das verstehen hier nur die wenigen, die sich mit dem Strafvollzug in Hessen beschäftigen; ich sage es trotzdem – sollten Sie noch heute den Erlass zum Feuerentzug zurücknehmen.

(Beifall DIE LINKE)

Dieser Erlass wälzt die Verantwortung für Haftbrände auf Bedienstete ab, was für sich schon ein Unding ist. Wenn Bedienstete jetzt auch noch kontrollieren müssen, wer tauglich für den Besitz eines Feuerzeugs ist, und aufpassen müssen, dass diejenigen, die kein Feuerzeug haben dürfen, an keines gelangen, und dazu eine Raucherbetreuung einrichten müssen für diejenigen, die trotzdem rauchen wollen, dann grenzt das an Schikane.

Meine Damen und Herren, zum Schluss noch ein paar Sätze zu einer anderen Folge des kochschen Kahlschlags in unserem Land, den wir selbstverständlich in den Justizbehörden, in den Gerichten bis heute noch beklagen müssen. Eine andere Folge der kochschen Politik ist die Projekteritis im Land Hessen.

(Elisabeth Kula (DIE LINKE): Nicht nur in der Justiz!)

Es werden im Zweifelsfall Projekte aufgelegt, statt strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um zu Verbesserungen in diesem Land zu kommen. Das ist im Bereich der Justiz zum Glück nicht ganz so schlimm wie z. B. in der Sozialpolitik. Aber auch in der Justiz gibt es das. Ich nenne nur ein Beispiel: das Projekt „Auftrag ohne Antrag“. Das Projekt zielt darauf ab, die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen durch die Vermittlung von gemeinnütziger Arbeit, Ratenzahlung oder sogar direkten Zahlungen abzuwenden. Etwas Gutes sollte nicht Projektstatus haben, sondern etwas Gutes sollte strukturell umgesetzt werden in diesem Land. Damit kämen wir auch ein paar Schritte weiter.

(Beifall DIE LINKE und SPD)

Ich fasse zusammen. Herr Poseck, wir begrüßen, dass sich die Hessische Landesregierung mit Ihrer Person jetzt auf den Weg macht, die Situation an den hessischen Gerichten – und nicht nur dort – deutlich zu verbessern. Aber es bleibt noch viel Luft nach oben, insbesondere was die Attraktivität des Arbeitsplatzes in der hessischen Justiz anbelangt. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)