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Rede

Ulrich Wilken – Untätigkeit der Vorgängerin zwingt Justizminister zu Schlussspurt

Ulrich WilkenJustiz- und Rechtspolitik

In seiner 139. Plenarsitzung am 18. Juli 2023 diskutierte der Hessische Landtag über die Regierungserklärung des Hessischen Justizministers Roman Possek mit dem Titel: „Pakt für den Rechtsstaat". Dazu die Rede unseres rechtspolitischen Sprechers Dr. Ulrich Wilken.

Sehr verehrte Präsidentin, meine Damen und Herren!

Ich werde einmal schauen, ob eine Bundesinnenministerin hier auch noch etwas lernen kann, Frau Faeser.

(Heiterkeit DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, wir diskutieren den Pakt für den Rechtsstaat aufgrund der Regierungserklärung des Staatsministers Poseck. Ja, Herr Poseck, ich erkenne unumwunden an: Sie haben in den letzten 14 Monaten viel auf den Weg gebracht, was vorher liegen geblieben war. – Es ist schon gesagt worden, und ich muss Sie auch noch einmal daran erinnern: Sie lösen Probleme, die Sie selbst geschaffen haben, und das zeitweise auch mit Unterstützung der FDP, meine sehr geehrte Vorrednerin.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (Freie Demokraten): Nein! – Gegenruf Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Doch!)

Sie haben den Pakt für den Rechtsstaat für den Rest der Legislaturperiode zum Schwerpunkt gemacht, weil Sie ihn zuvor vernachlässigt hatten. Ihr ganzes Handeln der letzten 14 Monate ist eine Kritik am Nichthandeln Ihrer Vorgängerin.

(Beifall DIE LINKE, Elke Barth und Turgut Yüksel (SPD))

Es zeigt auf, was alles viel früher hätte geschehen müssen. Herr Poseck, Sie verweisen in Ihrer Rede auf den Bund der Strafvollzugsbediensteten, die geschockt davon sind, dass ihre Forderungen einmal nicht ungehört verhallen. Das ist doch kein Grund, stolz zu sein. Das sind Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit vielen Jahren vollkommen überlastet sind.

Herr Minister, wir sind auch bei Ihnen, dass es jetzt darauf ankommt, diese Stellen auch zu besetzen. Uns liegen, was z. B. die Belastung der Staatsanwaltschaften angeht, nur Zahlen aus 2022 vor. Ich trage sie jetzt nicht noch einmal vor. Wir kennen sie alle. Sie sind katastrophal. Wir werden beobachten, ob hier mit dem Stellenzuwachs eine Entlastung geschaffen wird. Dann geben wir Entwarnung.

Noch eine Bemerkung zum Selbstlob. Ich fand es ja interessant, dass Sie stolz darauf sind, dass seit Oktober 2022 kein Haftbefehl mehr wegen zu langer Verfahrensdauer aufgehoben wurde. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will klipp und klar sagen: Das ist zwar Grund zur Freude, aber muss doch selbstverständlich sein.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Minister, was ich nicht ganz verstanden habe: Sie sagen vollkommen zu Recht und geben den Hinweis, dass das nicht alles unbedingt im ministeriellen Verantwortungsbereich liegt. Ja, genau, liegt es nicht, deswegen ist es zumindest intellektuell unredlich, sich dafür zu rühmen.

Also – so viel zum Pakt für den Rechtsstaat –, wir erkennen an: Das ist ein starker Schlussspurt eines Aufbauprogramms. Aber wenn man den größten Teil des Weges im Schneckentempo geht, dann ist ein Schlussspurt erforderlich, um, bis die Zeit abgelaufen ist, überhaupt noch ins Ziel zu kommen.

(Beifall DIE LINKE)

Etwas ausführlicher möchte ich mich jetzt mit dem von Ihnen aufscheinen gelassenen Zukunftsprogramm beschäftigen. Zuerst zur Fußfessel als Maßnahme gegen Gewalt gegenüber Frauen. Wir müssen leider konstatieren: Häusliche Gewalt ist alltäglich. Jede vierte Frau in Deutschland erlebt im Laufe ihres Lebens häusliche und oder sexualisierte Gewalt.

Dank der Istanbul-Konvention gilt in Deutschland seit 2018 die gesetzliche Pflicht, alles Notwendige zu unternehmen, um häusliche Gewalt zu unterbinden. Das gilt auch für Hessen. Es gilt eben, dass dies bei Weitem nicht umgesetzt ist.

Es herrscht beispielsweise landesweit ein enormer Mangel an Plätzen in Schutzeinrichtungen. Allein in Hessen fehlen nach wie vor 300 Familienzimmer in Frauenhäusern. Die schwarz-grüne Landesregierung hat keine entscheidenden Weichen gestellt, um diesem Problem zu begegnen.

Sie schlagen jetzt eine Fußfessel vor. Vor diesem Hintergrund kommt die Forderung nach einer Einführung von Fußfesseln zur Durchsetzung von Näherungsverboten als ein reines Placebo daher. Das soll über das eigene politische Versagen bei der Stärkung des eigentlichen Schutzsystems hinwegtäuschen.

Wir gehen davon aus, dass die sogenannte Fußfessel ein GPS-Peilsender sein soll, der einen Umgebungsradius bei Näherungsverboten in der Umgebung der von der Gewalt betroffenen Person absichert. Solche Wegweisungen kann die Polizei bei häuslicher Gewalt für 14 Tage verhängen und gegebenenfalls noch ein zweites Mal verlängern. Längere Näherungsverbote brauchen eine Anordnung des Familiengerichts.

Eine GPS-Fußfessel, die eine Komplettüberwachung einer Person ermöglicht, darf bisher nur bei schwersten Straftaten, etwa bei Terrorismusverdacht, präventiv durch Strafgerichte verhängt werden. Deswegen ist fragwürdig, ob eine solche Eingriffsschwelle überhaupt existiert. Es gab in der Anhörung im Hessischen Landtag starke verfassungsrechtliche Bedenken. Der Placebo-Charakter wird an der von Schwarz-Grün verfassten Gesetzesbegründung deutlich. Ich zitiere:

Fälle, in denen der Einsatz der elektronischen Aufenthaltsüberwachung taktisch sinnvoll und rechtlich begründbar ist, werden seltene Einzelfälle bleiben. Zu rechnen ist deshalb voraussichtlich mit höchstens ein bis zwei Anwendungen pro Jahr.

Das nenne ich Placebo. Wenn das die Zukunftsmusik Ihrer Regierungserklärung ist, dann ist das schon ein bisschen dünn.

(Beifall DIE LINKE)

Was es stattdessen bräuchte und was wirklich helfen würde, ist, Frauen zu stärken. Patriarchale Gewalt kann langfristig nur durch eine Überwindung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgen. Der Ausbau der Schutzeinrichtungen muss vorangetrieben werden. Zudem muss die präventive Sozialarbeit gestärkt werden.

Zu einem weiteren Punkt, zur Schwerpunktstaatsanwaltschaft bei Gewalt gegen queere Menschen. Ja, wir unterstützen das. Wir haben es auch begrüßt, dass Sie das im Umfeld des CSD am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main angekündigt haben.

Auch wir wollen, dass diese Gewalt effektiv verfolgt wird. Die Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft muss aber doch immer das Ziel haben, sich selbst überflüssig zu machen. Alle Staatsanwaltschaften sollten in der Lage sein, Gewalt gegenüber queeren Menschen in der Gesamtheit der Gesellschaft zu verfolgen. Ich hoffe, dass wir in absehbarer Zeit dorthin kommen.

Noch einige Sätze zu der von Ihnen vorgeschlagenen Änderung bei der Vorratsdatenspeicherung. Die ewige Wiederholung der Forderung nach Vorratsdatenspeicherung lenkt davon ab, wirklich wirksame Maßnahmen in Angriff zu nehmen, z. B. eine verbesserte Zusammenarbeit mit Jugendämtern, Schulen, Kindergärten usw. Davon lenken Sie ab, wenn Sie immer wieder eine Vorratsdatenspeicherung ins Spiel bringen.

Sie haben im Zusammenhang mit Ihrem Vorschlag vorgebracht, wenn einen Monat lang gespeichert würde, würden 90 % der Verbrechen aufklärbar sein. Das haben wir auch gelesen. Wir haben aber auch den anderen Satz gelesen. Wenn neun Tage lang gespeichert würde, könnten immerhin schon 80 % der Verbrechen aufgeklärt werden. Wir müssen diese Diskussion offen und ehrlich führen.

(Holger Bellino (CDU): Das ist doch kein Widerspruch!)

Nun noch eine Bemerkung zum Ethos für Grundlagen und Werte des Rechtsstaats. Auch das haben Sie angesprochen. Es geht darum, einerseits allgemein verbindliches Recht zu schaffen und andererseits die eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht zu binden. Ich erinnere an die Plenardiskussionen vor wenigen Wochen. Rechtsstaat heißt eben auch, dass sich auch die Gesetzgebung an die Verfassung halten muss. Wir haben große Zweifel daran, dass z. B. das hessische Versammlungsgesetz, das in diesem Haus gegen unsere Stimmen verabschiedet worden ist, diese Verfassungskonformität wirklich einhält.

Nun ein paar letzte Überlegungen zu dem, was vor uns liegt und wozu Sie heute leider nichts gesagt haben. Mir geht es um die Kriminalisierung der Klimaproteste und des zivilen Ungehorsams. „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, so lautet der Titel eines Aufsatzes von Habermas, der 1983 erschienen ist. Genau diesen Testfall erleben wir derzeit. Es scheint, als ob der Rechtsstaat nach Wochen des intensiven Protests durch die „Letzte Generation“ nicht nur in Berlin nun andere Saiten aufziehen möchte und erneut nach dem Strafrecht greift, genauer gesagt, nach einem Tatbestand des ohnehin nicht unproblematischen Präventivstrafrechts.

(Robert Lambrou (AfD): Aber es sind doch Straftaten!)

Meine These ist, dass der Versuch, die Klimaproteste wegzustrafen, den Rechtsstaat zwangsläufig schwächt, anstatt ihn zu stärken.

(Beifall DIE LINKE – Zuruf Alexander Bauer (CDU))

Politischer Protest ist im Ausgangspunkt ein wesentliches Element einer demokratischen Kultur und muss von uns allen ausgehalten werden.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (Freie Demokraten): Aber nicht jedes Mittel ist recht!)

Es ist auch die Frage des Umgangs mit strafbaren Aktionen im Zuge des politischen Protests.

(Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Ja, und?)

Ja, wir alle stecken fest, wenn Straßen blockiert werden. Doch bei aller Gereiztheit über das Ausbremsen unseres Alltags dürfen wir nicht vergessen, dass in der Geschichte, auch in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, in der Tat oft schon kleinen unbequemen Minderheiten recht gegeben wurde, die jenseits des „Alles wird gut“ den Blick auf die Missstände in der Gesellschaft gelenkt haben.

(Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Ziemliches Geschwurbel!)

Nur beispielhaft, weil es zum Thema passt: Auch der Atomausstieg wurde teilweise durch Protestaktionen, Schienen- und Straßenblockaden erkämpft,

(Robert Lambrou (AfD): Das waren auch Straftaten!)

die damals ebenso zum Teil als kriminell behandelt wurden. Ein guter Teil der Rechtsauslegung, die wir heute in Sachen „Letzte Generation“ anwenden, stammt aus der Rechtsprechung gegen die Antiatomkraftbewegung. Deren Anliegen sind inzwischen zum politischen Konsens erstarkt. Zentrale Erkenntnis kann doch nicht sein – dazu möchte ich uns ermahnen –,

(Holger Bellino (CDU): Der Zweck heiligt nicht die Mittel!)

dass eine Demokratie viel Protest aushalten muss, vor allem eine solche, die sich ihrer eigenen Grundlagen sicher ist, sondern, dass eine Demokratie sich auch Veränderungen zutraut und deswegen Veränderungen nicht wegstraft.

(Beifall DIE LINKE – Dr. Stefan Naas (Freie Demokraten): Was?)

Falls der Staat weiterhin versucht, Klimaproteste wegzustrafen, und dazu immer stärker aufrüstet, droht eine in der Sache völlig unnötige Eskalation durch eine Vertiefung der Gräben. Dann ist es gut möglich, dass die „Letzte Generation“ wie auch andere Gruppen der Klimabewegung den Staat nicht mehr zum Handeln auffordern, sondern das Vertrauen in ihn verloren geht. Das wäre meiner Einschätzung nach angesichts unseres intergenerationellen Auftrags, den Klimawandel abzumildern, im Nachhinein wohl kaum zu verzeihen.

(Beifall DIE LINKE)

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Ein starker Rechtsstaat kann sich nicht allein auf repressives Handeln beschränken. Die Stärke eines Rechtsstaats zeichnet sich viel mehr und vor allem dadurch aus, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit seinen Regeln identifizieren und es eine hohe Akzeptanz der rechtsstaatlichen Werte gibt.

Die Wirksamkeitsvoraussetzungen eines gut funktionierenden und in diesem Sinne starken Rechtsstaates zu schaffen und zu festigen, ist eine Querschnittsaufgabe. Viele Hände müssen ineinandergreifen, viele Akteure müssen zusammenkommen, breit gestreutes Fachwissen und vorhandene Stellen müssen vernetzt werden.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte macht klar: Die Menschenrechte sind untrennbarer Bestandteil von Demokratie und Rechtsstaat. Sie sind deren Voraussetzung, und sie sind für ihre Verwirklichung auf die Demokratie und den Rechtsstaat angewiesen.

Wir erleben, wie durch rassistische, antisemitische und antiziganistische Hassrede und Gewalt die Würde aller Menschen infrage gestellt wird. Damit wird das Fundament der Menschenrechte angegriffen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten – auch mit Pakten für den Rechtsstaat –, dass nicht Hass und Gewalt recht bekommen, sondern die Menschenrechte hochgehalten werden. – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall DIE LINKE)