Die hessische Linksfraktion bestand von April 2008 bis Januar 2024

Rede

"Wichtig den Reichtum angemessen umzuverteilen"

Zum Entschließungsantrag der Fraktion der CDU und Bündnis 90/ DIE GRÜNEN betreffend Reformationsjubiläum 2017:

 

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben zum Reformationsjubiläum einen Entschließungsantrag eingebracht, um die Bedeutung der Reformation vor 500 Jahren zu unterstreichen. Dazu gäbe es vieles zu sagen; viel mehr, als in diesem knappen Antrag zu lesen ist.

Ich werde deshalb meine Rede auf den Inhalt des Antrags beziehen; denn die Reformation insgesamt zu würdigen sollte an anderer Stelle geschehen als in diesem Hessischen Landtag. Niemand bezweifelt die herausragende Bedeutung der Reformation. Von der Reformation gingen in der Tat zahlreiche Impulse aus, die bis heute ihre Auswirkungen zeigen. Auch das damalige Hessen war in diesen Prozess einbezogen. Doch bei aller Würdigung vermissen wir als LINKE den Hinweis auf den wohl entscheidendsten Impuls der Reformation, der bis heute anhält, aber immer mehr zurück- und abgebaut wird.

Es war keineswegs so, dass die Ausbildung der Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen ein Ergebnis der Reformation ist, wie es im Antrag ausgedrückt wird. Im Gegenteil, die Reformation hat zwar die seinerzeitige Obrigkeit gestärkt, sie aber zugleich auch verpflichtet, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Der Staat wurde nämlich zugleich in die Pflicht genommen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Wer die Reformation also würdigen will, kann dies nicht tun, ohne auf den Sozialstaat zu sprechen zu kommen. Wer heute nicht nur oberflächliche Kenntnisse über die Sozialpolitik in Europa hat, muss erkennen, dass es gerade die skandinavischen Staaten sind, die über einen vorbildlichen Sozialstaat verfügen. Woher kommt dieser ausgebaute Sozialstaat? Welche Quellen haben dazu beigetragen, dass sich dort ein Sozialstaat ausgebildet hat, der für jedermann vorbildliche soziale Rechte bereithält, der vorbildlich in Sachen Bildung und soziale Dienste ist?

(Zuruf des Abg. Stephan Grüger (SPD))

Es waren die Impulse der Reformation Luthers. Dieses Erbe ist auch in Deutschland wirksam geworden. Der lutherische Obrigkeitsstaat war für Demokraten unerträglich, aber sozialpolitisch durchaus erfolgreich. Es waren nämlich lutherische Politiker, welche die ersten Sozialstaatsgesetze verfasst haben.

(Lachen bei der SPD)

Sie waren es, die gegen die Konservativen die ersten Sozialgesetze in den Reichstag mit der Begründung einbrachten: „Sozialgesetze sind Nächstenliebe in staatlicher Betätigung“, nachzulesen in „‚Nachtwächterstaat‘ oder ‚Praktisches Christenthum‘? Religiöse Kommunikation innerhalb der parlamentarischen Diskussion im deutschen Reichstag um die Einführung der Sozialversicherung 1881 bis 1889“.

Genau das meint die frühere Ratsvorsitzende und jetzige Botschafterin für das Reformationsjubiläum, Bischöfin Margot Käßmann, wenn sie sagt – ich zitiere –: Es ist vor allem das späte Erbe Martin Luthers und der anderen Reformatoren, das sich im modernen Sozialstaat artikuliert. Das ist nachzulesen in „Die Ursprünge des Sozialstaates in der Reformation“ von Margot Käßmann und Gerhard Wegner, Seite 283. Aus diesem Grund haben wir einen Änderungsantrag zum vorliegenden Entschließungsantrag von CDU und GRÜNEN eingebracht, in dem es heißt: Der Landtag würdigt die Einflüsse der Reformation Luthers auf die Entwicklung des modernen Sozialstaates, der auf den Werten der Solidarität und Gerechtigkeit basieren soll. Luthers Rede von der Freiheit bedeutet sozialpolitisch gewendet: Eine freie Gesellschaft bedarf einer breiten sozialen Sicherung aller Lebensrisiken, sodass sich möglichst viele Menschen gemäß ihren Fähigkeiten entfalten können und frei von Not und Armut leben können.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese wichtige Aussage sollte unserer Meinung nach als neuer Punkt 6 in den Entschließungsantrag aufgenommen werden. Nur dann halten wir ihn für zustimmungsfähig. Einem modernen Sozialstaat, der auf den Werten von Solidarität und Gerechtigkeit basiert, stand jedoch das Handeln der Regierung Roland Koch diametral entgegen. Jeder, der arbeiten kann, soll auch vom Staat eine – gegebenenfalls subventionierte – Arbeitsmöglichkeit erhalten. Wer sich dennoch weigert, zu arbeiten, muss mit empfindlichen Einschränkungen der staatlichen Leistungen rechnen. Oder: Jeder leistet etwas für die empfangene Hilfe … Das waren die Ansagen von Roland Koch, nachzulesen in einem Interview der „FAZ“ vom 12. August 2001 mit der bezeichnenden Überschrift „Die Faulenzer müssen aus dem System“. Hier zeigt sich, dass Hessens ehemaliger Ministerpräsident der Geburtshelfer dessen war, was später Hartz IV genannt werden sollte. Wir hingegen sagen: Das Leistung-Gegenleistung Konzept hebelt soziale Rechte aus. Wer arm ist, hat ein Recht auf Unterstützung und muss sich nicht in jede Arbeit um jeden Preis drängen lassen.

Das Anwachsen des Niedriglohnsektors und der vielen prekären Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland ist zutiefst unchristlich. Die sogenannte „Operation sichere Zukunft“, die Agenda 2010 und Hartz IV haben den lutherisch geprägten Sozialstaat, wie er unser Sozialsystem geprägt hatte, tiefgreifend geschwächt. Die Hessische Landesregierung hat insbesondere unter Roland Koch entscheidend dazu beigetragen. In ihrem Sozialwort aus dem Jahr 1997 haben die Kirchen noch vor dem großen Angriff auf den Sozialstaat klar ihr Veto eingelegt und gewarnt – Zitat –: Die Hinweise auf die Verhältnisse in den USA verkennen die unterschiedliche soziokulturelle Tradition und werfen Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf. So heißt es dort in Ziffer 14. Die damalige Hessische Landesregierung unter Roland Koch hat aber genau das getan: Sie hat sich an den Verhältnissen in den USA, insbesondere im Staat Wisconsin, orientiert. Die Sozialsysteme der USA sind jedoch für uns kein nachahmenswertes Beispiel. Die „Operation sichere Zukunft“ vom Herbst 2004 war doch das größte Sparprogramm in der Geschichte des Bundeslandes Hessen. Es war ein sozialer Kahlschlag, den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN damals zu Recht noch „Operation düstere Zukunft“ nannte. 

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Nur zur Erinnerung: Die „Operation düstere Zukunft“ war ein Projekt, das von einem neoliberalen Geist getragen war, der aus den USA importiert wurde. Dagegen hatte sich eine breite Protestbewegung von Studierenden, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden und sozialen Einrichtungen zu Recht gewehrt.

(Beifall bei der LINKEN)

Die „Operation“ sah vor, gut 1 Milliarde € aus dem Landeshaushalt für 2004 herauszuschneiden. Gezielt ging man gegen ausgewählte soziale Einrichtungen, gegen Studierende und die Beschäftigten des Landes vor. Deshalb sage ich an die Adresse von CDU und GRÜNEN: Man kann nicht die Reformation würdigen und die „Operation sichere Zukunft“ aus dem Jahr 2004 verschweigen. Sie atmet nämlich den puritanischen Geist der USA, den Roland Koch in Wisconsin als Vorbild genommen hatte. Dieser Neoliberalismus entstammt dem amerikanischen Puritanismus und hat mit der Reform Luthers nichts zu tun. Auch wir wollen den Beitrag der Reformation gewürdigt wissen, aber wir wollen ihn eben nicht halbieren.

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Sie heben im Entschließungsantrag „die Ausbildung der Eigenverantwortlichkeit“ als Resultat der Reformation hervor. Eigenverantwortung und Solidarität gehören aber zusammen. Doch davon ist im Entschließungsantrag keine Rede. Die Wörter „Sozialstaat“ und „Solidarität“ vermisse ich zudem gänzlich im Entschließungsantrag. Hören Sie sich an, wie der lutherische Theologe Gerhard Uhlhorn 1882 über Eigenverantwortung gesprochen hat – Zitat –: Nein, nicht, wenn jeder für sich sorgt, sorgt er auch am besten für das Ganze, sondern umgekehrt, wer nicht für sich lebt, sondern für andere, für die Gemeinschaft, der sorgt auch am besten für sich. Das ist nachzulesen auf Seite 126 in „Das Christentum und das Geld“, Schriften der Sozialethik, herausgegeben 1990 von Martin Cordes. Luther selbst spricht von der Freiheit eines Christenmenschen. Darauf setzt der Entschließungsantrag offensichtlich auf. Doch bei Luther geht es gerade nicht um den Einzelnen, der seine Interessen durchsetzt, sondern um den Menschen, der dazu bereit ist, seinen Mitmenschen zu helfen. Luther war es, der mit Beginn der Reformation Armenkassen eingeführt hat.

Vizepräsident Frank Lortz: Kollege Schaus, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Das heißt, die Obrigkeit wurde in die Pflicht genommen, für die Armen zu sorgen. Deshalb sage ich: Luther war ein scharfer Kritiker des Frühkapitalismus. Daran müssen wir an dieser Stelle auch erinnern und den Sozialstaat hochhalten. Das macht der Antrag von CDU und GRÜNEN in keiner Weise.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank Blechschmidt (FDP): Der arme Luther!)